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Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1994


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Peter-Tobias Stoll

XVI. Internationale Organisationen

c. Sonstige Organisationen

    303. Auf einem Treffen der Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten der KSZE am 5. und 6. Dezember 1994 in Budapest wurde das Budapester Dokument 1994 verabschiedet, mit dem eine deutliche strukturelle Weiterentwicklung eingeleitet wird, die mit einer Umbenennung der KSZE in OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) betont wird.765 Die strukturellen Aussagen der Budapester Konferenz sind in den Beschlüssen766 unter I. � Stärkung der KSZE � zusammengefaßt. Danach soll die KSZE künftig als umfassendes Forum für Konsultation, Entscheidungsfindung und Zusammenarbeit in Europa dienen und ihre Fähigkeit zur vorbeugenden Diplomatie weiter stärken. Ihre Möglichkeiten zur Konfliktlösung, Krisenbewältigung und Friedenserhaltung sowie zur Rehabilitation in der Zeit nach Konflikten sollen weiterentwickelt werden. Die KSZE-Teilnehmerstaaten werden als Teilnehmer an einer regionalen Abmachung nach Kapitel VIII der Charta der Vereinten Nationen alle erdenklichen Bemühungen unternehmen, um örtlich begrenzte Streitigkeiten einer friedlichen Regelung zuzuführen, bevor sie den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen damit befassen.767 Als umfassende Rahmenstruktur für die Sicherheit soll sich die KSZE bereithalten, als Sammelstelle für frei ausgehandelte bilaterale und multilaterale Vereinbarungen und Übereinkünfte zu fungieren sowie deren Umsetzung, falls von den Parteien gewünscht, zu verfolgen.768

    304. In institutioneller Hinsicht soll der Ministerrat � vormals der Rat der KSZE � als das zentrale beschlußfassende und lenkende Gremium der KSZE wirken und auf Außenministerebene regelmäßig gegen Ende der Amtsperiode jedes Vorsitzenden zusammentreten. Der Hohe Rat � bisher: Ausschuß Hoher Beamter � soll mindestens zweimal jährlich in Prag und zusätzlich vor dem Treffen des Ministerrats tagen. Er soll grundsatzpolitische und allgemeine haushaltspolitische Richtlinien erörtern und vorgeben. Reguläres, für politische Konsultationen und Entscheidungsfindung zuständiges Gremium soll der Ständige Rat � vormals der Ständige Ausschuß � sein, der auch aus Dringlichkeitsgründen einberufen werden kann.769 Für exekutive Maßnahmen wird weiterhin der amtierende Vorsitzende die übergreifende Verantwortung tragen, wobei er von einer Troika unterstützt wird. Seine Amtszeit soll normalerweise ein Kalenderjahr betragen.770

    305. Auch das KSZE-Forum für Sicherheitskooperation (FSK) wird in dem Dokument deutlich aufgewertet. Es soll einen Rahmen für die Rüstungskontrolle entwickeln, einschließlich von Zielen und Methoden für die Schaffung, die Wahrung und die Verbesserung von Stabilität und Sicherheit in der KSZE-Region.771 Unter Beibehaltung seiner Autonomie und Beschlußfähigkeit soll das FSK in die KSZE-Aktivitäten in den Bereichen Politik, Konfliktverhütung und Krisenbewältigung einbezogen werden, um eine praktische Zusammenarbeit zwischen dem FSK und dem Ständigen Rat bei der Behandlung aktueller, die militärische Sicherheit betreffender Fragen zu ermöglichen.772
    Neben diesen institutionellen Fragen wurden auf dem Gipfel in Budapest auch inhaltliche Fragen erörtert und Beschlüsse gefaßt. Das Gipfeldokument enthält eine Erklärung zum 50. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges, eine Erklärung zu Fragen der baltischen Region und Beschlüsse zu regionalen Fragen (Konflikt in Berg Karabach, Situation in Georgien und Moldau), Aussagen zur "menschlichen Dimension" (u.a. Rechtsstaatlichkeit, Todesstrafe, Folter, Minderheiten, Roma und Sinti, Toleranz und Nichtdiskriminierung, Wanderarbeitnehmer, Migration und humanitäres Völkerrecht) sowie Grundsätze der Politik im Hinblick auf den Mittelmeerraum.
    Besondere Bedeutung hat die Verabschiedung eines Verhaltenskodexes zu politisch-militärischen Aspekten der Sicherheit.773 Dabei handelt es sich, wie Ziff. 39 des Kodexes selbst bestimmt, um ein lediglich politisch bindendes Instrument. Es soll zum 1. Januar 1995 in Kraft treten und enthält die Aussage, daß die Teilnehmerstaaten bestrebt sein werden, zu gewährleisten, daß die Verpflichtungen aus dem Kodex in ihre einschlägigen innerstaatlichen Dokumente und Verfahren und ggf. in ihre Rechtsdokumente Eingang finden.774 Unter Bezugnahme auf die bisherigen Prinzipien und Grundsätze der KSZE sind in dem Dokument zahlreiche weitere Aussagen enthalten. Ziff. 5 des Kodexes sieht vor, daß bei Verletzung von KSZE-Normen und -Verpflichtungen die Mitgliedstaaten solidarisch vorgehen und aufeinander abgestimmt reagieren sollen, falls sie sich in der Folge sicherheitspolitischen Herausforderungen gegenüber sehen. Weiterhin heißt es:

    "Sie werden gemeinsam die Art der Bedrohung beurteilen und mögliche Aktionen erwägen, die zur Verteidigung ihrer gemeinsamen Werte erforderlich sind."775
    Der Kodex bekräftigt "das in der Charta der Vereinten Nationen anerkannte naturgegebene Recht auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung" (Ziff. 9) und unterstreicht, daß die Teilnehmerstaaten das Recht haben, "in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht und mit den Verpflichtungen hinsichtlich der Prinzipien und Ziele der KSZE [ihre] eigenen Sicherheitsvereinbarungen frei zu wählen" (Ziff. 10). Weiterhin heißt es, daß alle Teilnehmerstaaten das souveräne Recht haben, internationalen Organisationen anzugehören oder nicht anzugehören und Partei bilateraler oder multilateraler Verträge und Bündnisse zu sein. Außerdem wird das Recht auf Neutralität erwähnt (Ziff. 11).
    Bedeutung hat die Aussage in Ziff. 12, wonach "jeder Teilnehmerstaat ... unter Berücksichtigung seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen nur solche militärischen Fähigkeiten aufrechterhalten [wird], die mit den individuellen oder kollektiven legitimen Sicherheitserfordernissen vereinbar sind." Weiter heißt es:
    "Ziff. 13: Jeder Teilnehmerstaat wird seine militärischen Fähigkeiten auf der Grundlage innerstaatlicher demokratischer Verfahren festlegen und dabei die legitimen Sicherheitsanliegen anderer Staaten sowie die Notwendigkeit eines Beitrags zur internationalen Sicherheit und Stabilität berücksichtigen. Kein Teilnehmerstaat wird den Versuch unternehmen, einen anderen Teilnehmerstaat militärisch zu dominieren.
    14. Ein Teilnehmerstaat kann seine Streitkräfte auf dem Territorium eines anderen Teilnehmerstaates aufgrund eines freiwillig eingegangenen Abkommens zwischen den betroffenen Staaten sowie im Einklang mit dem Völkerrecht stationieren."

    306. Mit Gesetz vom 23. August 1994 stimmte der Bundestag dem Übereinkommen vom 15. Dezember 1992 über Vergleichs- und Schiedsverfahren innerhalb der KSZE sowie dem zugehörigen Finanzprotokoll zu.776 Das Übereinkommen sieht die Errichtung eines Vergleichs- und Schiedsgerichtshofes mit Sitz in Genf vor.777 Aufgabe des Gerichtshofes ist es, Streitigkeiten durch Vergleich oder ein Schiedsgericht beizulegen.778 Der Gerichtshof bzw. die in seinem Rahmen eingesetzten Vergleichskommissionen bzw. Schiedsgerichte sind für alle Streitigkeiten zwischen den Vertragsstaaten des Übereinkommens zuständig, wobei Art. 19 das Verhältnis zu anderen Institutionen und Verfahren der friedlichen Streitbeilegung regelt. Danach werden eine Vergleichskommission bzw. ein Schiedsgericht nicht weiter tätig, wenn eine andere Instanz bereits eine Sachentscheidung getroffen hat oder wenn die Sache bereits einem Gerichtshof oder einem Schiedsgericht vorgelegt worden war, dessen Zuständigkeit in der Streitigkeit die beteiligten Parteien anzuerkennen rechtlich verpflichtet sind (Art. 19 Abs. 1 a). Das gleiche gilt, wenn die Streitparteien im voraus die ausschließliche Zuständigkeit eines anderen Rechtsprechungsorgans anerkannt haben, oder wenn sie übereingekommen sind, die Beilegung der Streitigkeit ausschließlich mit anderen Mitteln anzustreben (Art. 19 Abs. 1 b). Ist einer Vergleichskommission bzw. einem Schiedsgericht nach dem Übereinkommen bereits eine Streitigkeit unterbreitet, so werden sie dennoch nicht tätig, wenn eine oder alle Parteien die Streitigkeit noch einem Gerichtshof oder Schiedsgericht vorlegen, dessen Zuständigkeit die Beteiligten anzuerkennen rechtlich verpflichtet sind (Abs. 2). Im Falle des Vergleichsverfahrens wird das Verfahren aufgesetzt, wenn die Streitigkeit einem anderen Organ vorgelegt worden ist, das die Zuständigkeit hat, Vorschläge zu derselben Streitigkeit abzugeben. Wenn dort die Streitigkeit nicht beigelegt werden kann, nimmt die Vergleichskommission nach diesem Übereinkommen ihre Arbeit wieder auf (Abs. 3). Nach Abs. 4 des Art. 19 sind Vorbehalte möglich, um die Vereinbarkeit des Übereinkommens mit anderen Mitteln der Streitbeilegung sicherzustellen, die sich aus internationalen Verpflichtungen ergeben, die auf den entsprechenden Staat anwendbar sind. Kapitel III des Übereinkommens regelt das Vergleichsverfahren, das nach Art. 20 Abs. 1 auf Antrag eines jeden Vertragsstaats eingeleitet werden kann. Das Schiedsverfahren ist in Kapitel IV des Übereinkommens geregelt. Es kann nach Art. 26 Abs. 1 jederzeit durch Ersuchen aufgrund einer Vereinbarung zwischen zwei oder mehr Vertragsstaaten des Übereinkommens oder zwischen einem oder mehreren Vertragsstaaten des Übereinkommens und einem oder mehreren anderen KSZE-Teilnehmerstaaten eingeleitet werden.779


    765 Bull. Nr. 120 vom 23.12.1994, 1097, Ziff. 3 der Gipfelerklärung, Budapester Dokument, Ziff. I.1. der Beschlüsse von Budapest, 1100. Danach gilt der Namenswechsel vom 1.1.1995.
    766 Ibid., 1100.
    767 Ibid., Beschlüsse, I.26.
    768 Ibid., Beschlüsse, I.27.
    769 Ibid., Beschlüsse, I.16-18.
    770 Ibid., Beschlüsse, I.16-19.
    771 Ibid., Beschlüsse, V.4.
    772 Ibid., Beschlüsse, V.7.
    773 Ibid., Beschlüsse, IV.
    774 Ziff. 39 und 41 des Kodexes.
    775 Ziff. 5 des Kodexes.
    776 BGBl. 1994 II, 1326. Das Übereinkommen sowie das Finanzprotokoll sind für Deutschland am 5.12.1994 in Kraft getreten, BGBl. 1995 II, 442; siehe auch Langenfeld (Anm. 4), Ziff. 205.
    777 Art. 1 und 10 des Übereinkommens.
    778 Art. 1.
    779 Siehe zum Ganzen auch: Woche im Bundestag 11/94 vom 1.6.1994, 68; BT-Drs. 12/7137.