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2001


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J. Christina Gille


XI. Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen

      70. In einem Kammerbeschluß vom 4.4.2001 (2 BvR 2368/99 - NJW 2001, 2705) betonte das BVerfG, daß die Gewährleistung des Grundrechtsschutzes gegenüber Akten einer supranationalen Organisation nicht auf die Europäischen Gemeinschaften beschränkt ist, sondern sich auf alle zwischenstaatlichen Einrichtungen i.S.d. Art. 24 Abs. 1 GG erstreckt, deren Rechtsakte in die nationale Rechtsordnung hineinwirken.

      Der Beschwerdeführer hatte mit seiner Verfassungsbeschwerde gerügt, durch eine Entscheidung der Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts (EPA) und die vorausgegangene Prüfungsentscheidung des EPA in seinen Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 19 Abs. 4 GG verletzt worden zu sein, da die Überprüfung im organisationsinternen Beschwerdeverfahren der Europäischen Patentorganisation (EPO) nicht den Maßstäben genüge, die das BVerwG174 für die Überprüfung von Berufsprüfungsentscheidungen aufgestellt habe.

      Das BVerfG lehnte die Ausübung seiner Gerichtsbarkeit ab, da nicht hinreichend substanziiert vorgetragen worden sei, daß der Grundrechtsschutz auf der Ebene des Europäischen Patentübereinkommens175 (EPÜ) nicht den Anforderungen des Grundgesetzes entspreche. Unter öffentlicher Gewalt nach � 90 Abs. 1 BVerfGG sei zwar nicht allein die deutsche Staatsgewalt zu verstehen, sondern auch Akte öffentlicher Gewalt einer supranationalen Organisation, soweit sie aufgrund der Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 24 Abs. 1 GG oder Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG Auswirkungen für die Grundrechtsberechtigten haben könnten. Die dem BVerfG übertragene Aufgabe des Grundrechtsschutzes erstrecke sich dementsprechend auch auf abgeleitete Akte von zwischenstaatlichen Einrichtungen i.S.d. Art. 24 Abs. 1 GG, die in die nationale Rechtsordnung hineinwirkten, und dadurch Rechte von Grundrechtsberechtigten in Deutschland betreffen könnten. Dieses funktionale Verständnis der öffentlichen Gewalt sei geboten, weil es andernfalls zu einer grundgesetzwidrigen Flucht in organisatorisch verselbständigte Einheiten auf zwischenstaatlicher Ebene kommen könnte.

      Die EPO sei eine zwischenstaatliche Einrichtung i.S.d. Art. 24 Abs. 1 GG, es handele sich um eine ins Völkerrecht verselbständigte juristische Person am Rande der EG, der die Erledigung von Funktionen der Europäischen Gemeinschaft übertragen sei, ohne daß sie bislang Bestandteil der Europäischen Union geworden sei. Gleichwohl seien alle EU-Mitgliedstaaten auch Vertragsparteien des EPÜ. Dem EPA seien Hoheitsrechte zur Ausübung übertragen. Maßgeblich dafür sei die Wirkung der Akte des EPA für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Zu den auf die EPO übertragenen Hoheitsrechten zähle die Erteilung europäischer Patente, die ihrem Inhaber grundsätzlich dieselben Rechte gewährten wie die entsprechenden nationalen Patente, sowie die Zulassung als Vertreter in Verfahren vor dem EPA. Die Entscheidung über die Zulassung sei unmittelbar wirksam und reiche über den organisationsinternen Bereich hinaus in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten hinein.

      Als Verfassungsbestimmung grundsätzlicher Art müsse Art. 24 Abs. 1 GG im Zusammenhang der Gesamtverfassung verstanden und ausgelegt werden, zu deren unaufgebbaren Bestandteilen die in den Grundrechten des Grundgesetzes enthaltenen fundamentalen Rechtsgrundsätze gehörten. Das Grundgesetz verlange jedoch nicht, im Einzelfall Grundrechtsschutz gerade durch das BVerfG zu gewährleisten. Vielmehr bedinge die Offenheit der Verfassung für die internationale Zusammenarbeit i.S. der Ziele der Präambel, daß das BVerfG seine Gerichtsbarkeit dann nicht ausübe, wenn auf der supranationalen Ebene ein im wesentlichen dem grundgesetzlichen vergleichbarer Grundrechtsschutz gewährleistet sei. Nehme eine supranationale Organisation unmittelbar Verwaltungsaufgaben wahr, ergäben sich allerdings strukturelle Anforderungen an den Rechtsschutz sowie an die Gestaltung der Verwaltungsverfahren.

      Diese Anforderungen seien gegenwärtig auf der Ebene des EPÜ generell gewährleistet. Das Rechtsschutzsystem des EPÜ entspreche im wesentlichen dem des Grundgesetzes und damit dem Standard des Art. 24 Abs. 1 GG. Die Mitglieder der Beschwerdekammern seien nach Art. 23 EPÜ sachlich und nach Art. 21 EPÜ persönlich unabhängig. Zumindest ein Mitglied müsse die Qualifikation zum Richteramt haben. Das Verfahren sei rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichtet. Vor allem die gemäß Art. 112 Abs. 1 EPÜ für Grundsatzfragen zuständige Große Beschwerdekammer, aber auch die Beschwerdekammer habe auf der Grundlage der Art. 113 ff. EPÜ für sämtliche Verwaltungsverfahren vor dem EPA Verfahrens- und Organisationsmaximen anerkannt und so die Rechtsstaatlichkeit dieser Verfahren gesichert. Auch zur Eignungsprüfung existiere eine umfassende Rechtsprechung der nach Art. 134 Abs. 8 lit. b EPÜ eingerichteten Beschwerdekammer in Disziplinarsachen, die Verfahrensanforderungen auch mit Blick auf Art. 14 EMRK176 erörtere.

      Im Übrigen sei fraglich, ob das angeführte Urteil des BVerwG für Berufsprüfungen aller Art verallgemeinert werden könne. Die dort angelegten Maßstäbe könnten jedenfalls gegenwärtig nicht als Ausdruck der Strukturelemente eines vom Grundgesetz intendierten Grundrechtsschutzes angesehen werden, welchen Art. 24 Abs. 1 auch gegenüber einer supranationalen Organisation gewährleiste.




      174 BVerwG, Urteil vom 9.12.1992 (6 C 3/92 - NVwZ 1993, 677).

      175 Übereinkommen über die Erteilung europäischer Patente vom 5.10.1973, BGBl. 1976 II, 649, 826; zuletzt geändert durch Beschluß vom 5.12.1996, BGBl. 1997 II, 763.

      176 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Anm. 6).