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Das Internationale Kooperationsrecht der Europäischen Union

Über das Projekt:

Eine statistische und dogmatische Vermessung einer weithin unbekannten Welt

Der Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit ist das internationale Kooperationsrecht der Europäischen Union: Vereinfacht gesprochen, völkerrechtliche Abkommen der EU, die Gremien schaffen, welche eine hoheitliche Tätigkeit entfalten sowie die Rechtserzeugung solcher internationaler Kooperationsgremien. Die Union tritt in diesem Bereich außerhalb ihres eigenen institutionellen Rahmens mit Drittstaaten und internationalen Organisationen in institutionalisierter Form in Kontakt. Bereits die Existenz dieser Gremien und des durch sie gesetzten Rechts wirft viele interessante Fragen auf. Mit der durch den EuGH verliehenen Durchschlagskraft in Form von unmittelbarer Wirksamkeit betrachtet, erhalten diese eine weitere Brisanz.

Struktur der Arbeit und Perspektiven der verschiedenen Teile

Zur Strukturierung der Untersuchung gliedert sich die Arbeit in vier Teile, in denen der Untersuchungsgegenstand aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wird. Während der erste Teil der Arbeit die Begrifflichkeiten klärt und den Untersuchungsgegenstand definiert, nimmt der zweite Teil eine empirisch-statistische Perspektive ein. Der dritte Teil widmet sich einer typologisierenden Perspektive, der vierte Teil betrachtet den Untersuchungsgegenstand aus einer rechtsdogmatischen Perspektive.
Angesichts der bisher weitgehend inexistenten empirischen Forschung und der resultierenden tatsächlichen Fehlvorstellungen besteht ein Bedarf an einer vorangehenden „Vermessung“ und „Erforschung“ im Sinne einer Bestandsaufnahme und Materialsammlung. Dies ist der Hintergrund für die Wahl der empirisch-statistischen Perspektive im zweiten Teil der Arbeit, die neue Einblicke eröffnen und eine gesicherte Datenbasis für die Auseinandersetzung mit der Thematik schaffen soll. Dabei werden Ergebnisse von drei mithilfe der Methoden der empirischen Sozialwissenschaft durchgeführten Untersuchungen präsentiert, ausgewertet und analysiert.
Im dritten Teil wird zunächst auf Basis einer Normtextanalyse der Bestand geltender Kooperationsabkommen der EU untersucht, also derjenigen völkerrechtlichen Verträge, die die im ersten Teil der Arbeit als Arbeitsdefinition entwickelten Definitionsmerkmale erfüllen. Auf dieser Grundlage wird ein Typologisierungsvorschlag erarbeitet, der die unterschiedlichen Abkommen in Gruppen zusammenfasst und so ordnet. Dabei werden vier Typen der völkerrechtlichen Kooperationsgremien basierend auf gemeinsamen Merkmalsausprägungen vorgestellt. Im Material angelegte Regularitäten führen dazu, dass als differenzierendes Charakteristikum die Methode der acquis-Verbreitung gewählt wird. Anschließend wird eine binäre Typologisierung des geschaffenen Rechts orientiert am Merkmal der Verbindlichkeit vorgenommen.

Im vierten Teil setzt sich die Arbeit mit rechtsdogmatischen Fragen auseinander. Während die Frage nach der völkerrechtlichen Rechtsnatur der Abkommen und des geschaffenen Rechts durch einen Vergleich mit ähnlichen Phänomenen auf der völkerrechtlichen Ebene beantwortet wird, werden die Anforderungen an die Ausgestaltung des Kooperationsrechts aus der Unionsrechtsperspektive hergeleitet. Dabei werden unter anderem das institutionelle Gleichgewicht und Grenzen der Delegation von Rechtsetzungskompetenzen auf völkerrechtliche Gremien aber auch das Wirksamkeits-, Rechtmäßigkeits- und Kontrollregime in den Blick genommen.
Hierbei findet ein handlungsformspezifischer Ansatz Anwendung, welcher die Beschlüsse der völkerrechtlich geschaffenen Gremien als eine Handlungsform des Unionsrechts und als unionsgeprägte Ausübung öffentlicher Gewalt deuten soll. Der Handlungsformenansatz unterscheidet Normen unabhängig von ihrem Inhalt nach formellen äußeren Kriterien, so dass sich die Zugehörigkeit zur Gattung einer Handlungsform durch andere konstitutive Merkmale als den Inhalt bestimmt. Die Vertreter einer bestimmten Handlungsform zeichnen sich dabei durch gemeinsame formelle Charakteristika aus, welche die Zurechnung zur Kategorie bedingen. Das beschriebene Phänomen der Rechtsetzung völkerrechtlich geschaffener Kooperationsgremien wird auf die verbindenden Merkmale hin untersucht und gruppiert, so dass übergreifende Aussagen zu Wirkungsmodus und Kontrollregime möglich werden. Das durch völkerrechtlich eingesetzte Gremien geschaffene Recht wird als ‚neue‛ eigenständige Handlungsform des Unionsrechts im Sinne einer wissenschaftlich bisher noch nicht konturierten Handlungsform konzipiert, was auch aufgrund der empirischen Bedeutung gewinnbringend erscheint. Damit wird das Thema im vierten Teil primär aus einer Kontroll- und Begrenzungsperspektive angegangen, im Rahmen derer eine Untersuchung der Voraussetzungen und eine Herausarbeitung der primärrechtlichen Forderungen an die zukünftige Ausgestaltung dieser Form von Rechtsetzung und Kooperation stattfindet. Nach der Benennung der Risiken und der Erarbeitung der gegenwärtigen Lage werden abschließend Vorschläge für die künftige Ausgestaltung entwickelt.

Thesen

Die Arbeit verfolgt folgende Thesen: das Kooperationsrecht ist ein quantitativ wie qualitativ beachtliches rechtstatsächliches Phänomen des Unionsrechts und eine Typologisierung der Abkommen nach dem Merkmal der acquis-Verbreitung trägt zur Ordnung des Phänomens bei. Das sekundäre Kooperationsrecht kann nach seinem Wirkungsmodus in verbindliches und unverbindliches Recht unterschieden werden. Weiterhin wird die These vertreten, dass aus dem unionsrechtlichen Primärrecht Anforderungen an die Ausgestaltung der Kooperationsabkommen und -gremien entwickelt werden können und die Beschlüsse des sekundären Kooperationsrechts als Handlungsform der Unionsrechtsordnung verstanden werden können, sie sich also einerseits durch bestimmte formelle Merkmale identifizieren lassen und andererseits einem formspezifischen Rechtsregime unterliegen. Den Anforderungen dieses Rechtsregimes kann durch eine angemessene rechtliche Ausgestaltung Genüge getan werden, so dass Kontroll- und Begrenzungsbedenken ernst genommen werden.
Beschlüsse des sekundären Kooperationsrechts stellen eine unionsgeprägte Ausübung internationaler öffentlicher Gewalt dar und müssen als solche rechtlich eingehegt werden. Angesichts der fraglichen demokratischen Legitimation hat der gerichtliche Rechtsschutz eine besondere Bedeutung für die rechtliche Einhegung des Phänomens.
Das Phänomen des Kooperationsrechts ist Zeuge einer großen Offenheit der Unionsrechtsordnung gegenüber Entscheidungen bestimmter internationaler Einrichtungen. Insgesamt wird das Phänomen des Internationalen Kooperationsrechts der EU als eine zukunftsweisende Entwicklung verstanden, mit der bei angemessener rechtlicher Ausgestaltung mehr Chancen als Risiken verbunden sind. Die Gremien sind damit eine zukunftsweisende Perspektive für das Phänomen internationaler Kooperation abseits internationaler Organisationen.

Zusammenfassung des ersten Teils

Internationales Kooperationsrecht der Europäischen Union wird im ersten Teil der Arbeit als die Summe des primären und sekundären Kooperationsrechts definiert. Primäres Kooperationsrecht muss dabei Anforderungen hinsichtlich der Form, der institutionellen Struktur und der Zielsetzung sowie des Fokus erfüllen. Der Begriff bezeichnet (Außenbeziehungs-) Abkommen zwischen der Unionsseite (Europäischen Gemeinschaft(en) und/oder EU sowie eventuell ein oder mehrere Mitgliedstaaten) und der Drittstaatsseite (ein oder mehrere dritte Staaten/Länder/internationale Organisationen/Institutionen). Die Abkommen müssen eine auf gewisse Dauer ausgerichtete institutionelle Struktur schaffen und dem Gremium gewisse Befugnisse übertragen. Das Gremium muss entweder paritätisch zusammengesetzt sein oder durch die Abstimmungsregeln sicherstellen, dass die Unionsseite nicht überstimmt werden kann. Weiterhin muss das Abkommen auf besondere, vertiefte und enge Beziehungen abzielen und einen Fokus auf die Zusammenarbeit mit der EU legen.
Sekundäres Kooperationsrecht wird dadurch gekennzeichnet, dass es auf der Basis des primären Kooperationsrechts durch ein Kooperationsgremium erlassen wurde und ist folglich das abgeleitete Kooperationsrecht.

Zusammenfassung des zweiten Teils

Im zweiten Teil der Arbeit werden empirische Beobachtungen gemacht, die die Hypothese stützen, dass das Kooperationsrecht sowohl mengenmäßig wie auch prozentual ein nicht zu vernachlässigendes rechtstatsächliches Phänomen des geltenden Unionsrechts darstellt. Als Vergleichsmaßstab dienen die Anteile prominenterer und anerkannt bedeutender Handlungsformen. Die Globalhypothese, dass das Kooperationsrecht ein quantitativ beachtliches rechtstatsächliches Phänomen des Unionsrechts ist, kann daher durch die empirischen Ergebnisse des zweiten Teils der Arbeit untermauert werden.
Weiterhin findet sich empirisches Material, das ein eigenständiges Profil des Kooperationsrechts belegt. Abschließend wird gezeigt, dass das Kooperationsrecht kein Phänomen ist, das auf die EG beschränkt ist, sondern dass unter anderem auch EGKS, Euratom und die Union von dieser Form der Gestaltung der Außenbeziehungen Gebrauch machen.
Diese Daten stellen eine Momentaufnahme des geltenden Rechts dar. Nicht mehr geltendes Kooperationsrecht kann basierend auf dieser Datengrundlage nicht vollständig abgebildet werden. Aussagen über die Gesamtheit des geltenden und nicht mehr geltenden Kooperationsrechts sind so nicht möglich. Daher werden im dritten Teil der Arbeit alle (geltenden und zwischenzeitlich außer Kraft getretenen) Kooperationsabkommen betrachtet.

Zusammenfassung des dritten Teils

Durch die Typologisierung im dritten Teil der Arbeit wird die Erstellung eines Ordnungsrasters angestrebt, das durch Gruppenbildung anhand charakterisierender Merkmale einen Erkenntnisgewinn erreichen soll. Ein Blick auf die existierenden Typologisierungsvorschläge stellt sowohl zum primären wie auch zum sekundären Kooperationsrecht einen Bedarf an einer neuen, unterscheidungskräftigen Typologisierung fest.
Auch ein Blick auf die Normengeschichte zeigt, dass der vorherrschende Typologisierungsvorschlag zum primären Assoziationsrecht überholt ist und sich daher nicht für eine Übertragung auf das Kooperationsrecht eignet. Ausgehend von zwei Abkommensformen (Assoziations- und Handelsabkommen) hat sich zwischen diesen beiden Polen eine weitere Form des Abkommens entwickelt und in den Verträgen Aufnahme gefunden: das Gremien-zur-Zusammenarbeit-einrichtende Abkommen. Auch verfahrensrechtlich hat sich diese Form des Abkommens dem Assoziationsabkommen immer weiter angenähert, so dass eine Zusammenfassung der Gremien zur Zusammenarbeit einrichtenden Abkommen unter dem Begriff „Kooperationsabkommen“ zulässig erscheint.
Im Rahmen des Typologisierungsvorschlags zum primären Kooperationsrecht werden die Abkommen anhand der Dimension der in ihnen vorgesehenen acquis-Verbreitung in vier Gruppen gegliedert. Als aquis-Verbreitung gilt dabei die in den Abkommen vorgesehene Rechtsdiffusion mit Bezug zum Besitzstand der EU. Unter Dimension wird Breite*Tiefe verstanden, wobei Breite vier verschiedene Merkmalsausprägungen vorsieht (vollständig, sektorübergreifend, punktuell und ohne Angleichung) und Tiefe sich mit der zeitlichen Komponente und Dynamik des acquis beschäftigt (dynamisch, statisch, gegenseitige Angleichung und ohne Angleichung). Parallel zur Typologisierung entsteht ein Bild der Zielrichtung der Abkommen und der angestrebten Nähe zur Union der entsprechend die Bezeichnungen der Typen gewählt wurden.
Die Kooperationsabkommen ersten Typs sehen eine Angleichung an den vollständigen acquis vor, die dynamisch ausgestaltet ist. Sie zielen auf den Beitritt zur Union und werden im Rahmen der Arbeit als (beitrittsvorbereitende) Vorzimmer-Kooperationsabkommen bezeichnet. Zum zweiten Typ gehören Kooperationsabkommen, die als Ersatz für den Beitritt dienen und eine sektorübergreifende oder punktuell-dynamische Angleichung an den acquis vorsehen. Für diese Gruppe wurde die Bezeichnung acquis-exportierende (beitrittsersetzende) Kooperationsabkommen gewählt. Zu den Kooperationsabkommen des dritten Typs gehört die Merkmalsausprägung punktuell/statisch oder eine punktuell/gegenseitige Angleichung. Sie werden als acquis-annähernde (heranführende) Kooperationsabkommen bezeichnet, deren Ziel eine Annäherung der Drittstaaten an den acquis ohne derzeitige Beitrittsperspektive ist. Die sonstigen Kooperationsabkommen sehen keine Angleichung an den acquis vor.
Ein Blick in die politikwissenschaftliche Literatur zeigt, dass dieses Phänomen dort meist unter dem Begriff Europeanization behandelt wird. Weder dieser noch andere vorgeschlagene Begriffe bilden den Kern der Thematik jedoch verlässlich ab. Daher wird der Begriff der acquis-Verbreitung vorgezogen.
Hinsichtlich des sekundären Kooperationsrechts wird als Unterscheidungsmerkmal der Wirkungsmodus gewählt. Dadurch entsteht eine binäre Codierung in verbindliche und unverbindliche Formen. Als verbindliche Form zeigt sich mit unerwarteter Uniformität der Beschluss, der insbesondere zur Flexibilisierung der Abkommen eingesetzt wird. Bei den unverbindlichen Formen herrscht größere Uneinheitlichkeit. Die Empfehlung tritt als häufigste Form neben anderen Formen wie Entschließung und Mitteilung hervor.

Zusammenfassung des vierten Teils

Im vierten Teil dieser Arbeit wird eine rechtsdogmatische Perspektive eingenommen und die Kooperationsbeschlüsse werden als Handlungsform des Unionsrechts konturiert. Die Handlungsformenperspektive stellt sich als überaus brauchbare Herangehensweise heraus, um den Kooperationsbeschlüssen festere Formen zuzuweisen. Die Untersuchung der formidentifizierenden Merkmale der Handlungsform ergibt eine Reihe von Merkmalen, die sich aus genetischen und textimmanenten Parametern zusammensetzen. Die (von den nur typischen Merkmalen zu unterscheidenden) konstitutiven formidentifizierenden Merkmale der Handlungsform werden zu einer formkonstituierenden Definition verwoben. Ein Beschluss des sekundären Kooperationsrechts definiert sich durch ein Kooperationsgremium als Rechtsetzungsorgan (genetische Parameter), die am Ende der Einleitungsformel befindliche Aktivkomponente mit einer formbezogenen Klausel (meist „beschließt“ oder „hat folgenden Beschluss angenommen“) sowie durch das Fehlen einer formellen Adressierung. Diese formellen Parameter erlauben eine klare Abgrenzung zu den bekannten Handlungsformen des Unionsrechts.
Hinsichtlich der Entwicklung formspezifischer Standards des Rechtsregimes konnten aus dem Unionsprimärrecht Anforderungen hinsichtlich der Zulässigkeit und Grenzen, der Rechtsnatur, des Rangs, des Wirkungsmodus, des Gültigkeitsregimes und nicht zuletzt des Kontrollregimes entwickelt werden. Von grundlegender Bedeutung für deren Bearbeitung sind die im Rahmen der vorangegangenen Teile der Arbeit, insbesondere im Rahmen der empirisch-statistischen Untersuchung, gewonnenen Einblicke. Ohne die methodische Auswertung der Praxis wäre eine Zusammenstellung der formidentifizierenden Merkmale nicht möglich gewesen.
Insgesamt konnte gezeigt werden, dass die Kooperationsbeschlüsse durch das Unionsprimärrecht eingehegt werden und trotz ihrer völkerrechtlichen Genese als Handlungsform gerade des Unionsrechts verstanden werden können. Die Liste der Einrichtungen der Union, die (teils sogar verbindliches) Recht setzen können, ist folglich mit den bekannten Rechtsetzungsorganen nicht abgeschlossen.

Ein bisher unkartographiertes Gebiet an der Schnittstelle zwischen Unions- und Völkerrecht, das auch in der Zufkunft eine wichtige, möglicherweise sogar zunehmende, Rolle im Bereich der Kooperation der Union mit Drittstaaten spielen könnte, wird daher durch die Arbeit empirisch und dogmatisch vermessen.


Doktorandin

Nicole Appel

Betreuer