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2001


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J. Christina Gille


XII. Europäische Gemeinschaften

7. Vorabentscheidungsverfahren

      80. Durch Kammerbeschluß vom 9.1.2001 (1 BvR 1036/99 - EuZW 2001, 255) betonte das BVerfG, daß das BVerwG das Grundrecht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, wenn es die gemeinschaftsrechtliche Frage nach der Kollision zwischen zwei Richtlinien ohne erkennbare Orientierung an der Judikatur des EuGH oder am Gemeinschaftsrecht allein nach nationalen Maßstäben beurteilt und wenn es seiner Verpflichtung zur Vorlage an den EuGH nicht nachkommt, weil es den Grundsatz der Gleichbehandlung der Geschlechter als anerkanntes ungeschriebenes gemeinschaftsrechtliches Grundrecht verkennt.

      Im Ausgangsfall streitig war die Anerkennung der Beschwerdeführerin als praktische Ärztin aufgrund einer Teilzeitqualifizierung. Damit verbunden war die Frage, ob das BVerwG verfassungsrechtlich dazu verpflichtet war, dem EuGH die Frage zur Entscheidung vorzulegen, wie das Vollzeiterfordernis für bestimmte Qualifizierungsabschnitte nach der Richtlinie 86/457/EWG222 unter Berücksichtigung der Richtlinie 76/207/EWG223 zu verstehen sei.

      Nach der Rechtsprechung des BVerfG sei geklärt, daß der EuGH gesetzlicher Richter i.S.d. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sei und es einen Entzug des gesetzlichen Richters darstelle, wenn ein nationales Gericht seiner Pflicht zur Vorlage an den EuGH nicht nachkomme. Die Vorlagepflicht werde insbesondere in solchen Fällen unhaltbar gehandhabt, in denen ein letztinstanzliches Gericht seine Vorlageverpflichtung grundsätzlich verkenne. Gleiches gelte, wenn einschlägige Rechtsprechung des EuGH die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet habe oder noch nicht vorliege. Erscheine eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des EuGH nicht nur als entfernte Möglichkeit, werde Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Gericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschreite, etwa wenn gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung zu der Frage des Gemeinschaftsrechts mögliche Gegenauffassungen eindeutig vorzuziehen seien.

      Nach diesen Maßstäben habe das Urteil des BVerwG224 im vorliegenden Fall die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Einerseits habe das BVerwG die gemeinschaftsrechtliche Frage nach der Kollision zwischen vorliegend der Richtlinie 76/207/EWG und den Richtlinien 86/457/EWG sowie 93/16/EWG225 ohne erkennbare Orientierung an der Judikatur des EuGH oder am Gemeinschaftsrecht allein nach nationalen Maßstäben beurteilt und nicht belegt, aus welcher Norm des europäischen Rechts es seine Berechtigung herleite, selbst über die Normenkollision nach Grundsätzen zu entscheiden, die es dem deutschen Recht entnommen habe (Grundsätze der Priorität und der Spezialität). Ein Gericht, das sich hinsichtlich des europäischen Rechts nicht ausreichend kundig mache, verkenne regelmäßig die Bedingungen für die Vorlagepflicht. Hierbei umfasse der Begriff des europäischen Rechts nicht nur materielle Rechtsnormen, sondern auch die Methodenwahl, denn die Wahl der Methode - Spezialität oder praktische Konkordanz - entscheide auch darüber, welche Rechtsnorm sich im Kollisionsfall durchsetze und damit materiell gelte. Andererseits habe das BVerwG dadurch, daß es nicht berücksichtigt habe, daß der Grundsatz der Gleichbehandlung der Geschlechter zu den vom EuGH anerkannten ungeschriebenen gemeinschaftsrechtlichen Grundrechten gehöre, ebenfalls seine Vorlageverpflichtung grundsätzlich verkannt und damit gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verstoßen. Diese Grundrechtsverbürgungen, die der EuGH aus den mitgliedstaatlichen Verfassungen und der EMRK226 entwickelt habe und die als allgemeine Rechtsgrundsätze Geltung als primäres Gemeinschaftsrecht entfalten würden, seien die Grundlage dafür, daß das BVerfG von einem wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft durch den EuGH ausgehe und sich seiner Kontrollbefugnis begeben habe. Das BVerwG habe verkannt, daß es zur Überprüfung des sekundären Gemeinschaftsrechts einen solchen durch den EuGH entwickelten Grundsatz der Gleichbehandlung der Geschlechter geben könnte, der dem Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes entsprechen und Geltung als primäres Gemeinschaftsrecht entfalten könnte. Auch eine solche Überlegung hätte das BVerwG zu einer Vorlage an den EuGH bewegen müssen, da andernfalls der Grundrechtsschutz ins Leere liefe, wenn das BVerfG mangels Zuständigkeit keine materielle Prüfung anhand der Grundrechte vornehmen könne und der EuGH mangels Vorabentscheidungsersuchens nicht die Möglichkeit erhalte, sekundäres Gemeinschaftsrecht anhand der für die Gemeinschaft entwickelten Grundrechtsverbürgungen zu überprüfen.

      81. Der BGH bekräftigte in einem Urteil vom 12.6.2001 (XZR 150/99 - BB 2001, 1549), daß eine Vorlagefrage an den EuGH geboten ist, wenn bezüglich einer noch nicht umgesetzten EG-Richtlinie Zweifel hinsichtlich ihrer Auslegung bestehen und sich aus der Richtlinie keine bestimmte Auslegung zwingend ergibt. Die Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH sei nicht entbehrlich, weil der nationale Gesetzgeber die entsprechende Richtlinie nicht bis zum fallerheblichen Zeitpunkt in nationales Recht umgesetzt habe. Nach der Rechtsprechung des EuGH seien die nationalen Gerichte gehalten, auch vor einer solchen Umsetzung des Gemeinschaftsrechts in Vorschriften des nationalen Rechts bei der Auslegung jedenfalls dann, wenn die Richtlinie unbedingt und hinreichend bestimmt sei, sich so weit wie möglich an Wortlaut und Zweck der Richtlinie auszurichten, so daß das mit der Richtlinie verfolgte Ziel in größtmöglichem Umfang erreicht werde. Daß bei fehlender fristgerechter Umsetzung von EG-Richtlinien in nationale Vorschriften auch Ersatzansprüche der Betroffenen gegen den säumigen Mitgliedstaat bestehen könnten führe insoweit zu keiner anderen Beurteilung.




      222 Richtlinie 86/457/EWG des Rates vom 15.9.1986 über eine spezifische Ausbildung in der Allgemeinmedizin, ABl.EG 1986 L 267/26; sowie die sie ersetzende Richtlinie 93/16/EWG des Rates vom 5.4.1993 zur Erleichterung der Freizügigkeit für Ärzte und zur gegenseitigen Anerkennung ihrer Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise, ABl.EG 1993 L 165/1.

      223 Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9.2.1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsausbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen vom 9.2.1976, ABl.EG 1976 L 39/40.

      224 BVerwG, Urteil vom 18.2.1999 (3 C 10/98 - EuZW 1999, 572); siehe auch die Anm. von T. Giegerich/D. Richter, EuZW 1999, 574.

      225 Richtlinie 93/16/EWG des Rates vom 5.4.1993 (Anm. 222).

      226 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Anm. 6).