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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1112. EINZELNORMEN DER EMRK

Art.6 Abs.2 EMRK

Nr.86/2

Art.6 Abs.2 EMRK zwingt nicht zu der Unterstellung, daß der Sachverhalt einer strafbaren Handlung sich nicht zugetragen habe, bevor er rechtskräftig festgestellt ist.

Art.6 (2) of the ECHR does not compel the assumption that acts which constitute a criminal offense have not been committed before they are established by a final court decision.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 30.10.1986 (4 StR 499/86), BGHSt 34, 209 (ZaöRV 48 [1988], 74)

Entscheidungsauszüge:

      Die Angeklagten waren während des Überfalls auf den Kassierer der Firma G. nicht am Tatort. Unmittelbar Tatausführende waren die Mitangeklagten A. und Z. Daß die Beschwerdeführer dennoch Mittäter, nicht lediglich Teilnehmer waren, schließt das Landgericht u.a. aus Parallelen zu einem späteren Überfall auf die K. AG in L. Auch dort haben die Angeklagten den organisatorischen Ablauf der - von sieben Tätern verübten - Tat bestimmt. Das Landgericht hatte sie deswegen in einem anderen Verfahren zu Freiheitsstrafen verurteilt; das Urteil war aber noch nicht rechtskräftig.
      Die Revision hält die Verwertung der Umstände jener anderen Straftat im vorliegenden Verfahren für unzulässig. ...
      b) Gegen die Unschuldsvermutung des Art.6 Abs.2 EMRK hat das Landgericht entgegen der Ansicht der Revision nicht verstoßen. Der Tatrichter ist durch diese Vorschrift nicht genötigt, Beweisanzeichen bei seiner Überzeugungsbildung nur deshalb außer Betracht zu lassen, weil es sich um noch nicht rechtskräftig abgeurteilte Straftaten handelt ... Denn der Richter ist gemäß §244 Abs.2 StPO verpflichtet, das Verhalten des Angeklagten unter Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen zu beurteilen. Ein Gebot lückenhafter Würdigung entsprechend dem mehr oder minder zufälligen Stand anderer Verfahren ist dem Gesetz nicht zu entnehmen ... Deshalb halten Rechtsprechung und Schrifttum das Gericht ganz allgemein für befugt, die Untersuchung über die durch Anklage und Eröffnungsbeschluß bezeichnete Tat hinaus auf andere Straftaten zu erstrecken, wenn dies zur Wahrheitsfindung erforderlich ist ... Dabei macht es auch keinen Unterschied, ob jene anderen Straftaten verjährt sind, ob das Verfahren mit einem Freispruch oder einer Einstellung durch die Staatsanwaltschaft geendet hat ... oder ob die Taten gemäß §§154, 154a StPO aus dem anhängigen Verfahren ausgeschieden wurden ... Daran ist festzuhalten. Art.6 Abs.2 EMRK zwingt nicht zu der Unterstellung, daß der Sachverhalt einer strafbaren Handlung sich nicht zugetragen habe, bevor er rechtskräftig festgestellt ist (vgl. Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar [1985] Art.6 Rdn.118). Die Annahme eines bis dahin bestehenden umfassenden Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbots ... wäre vielmehr eine Überdehnung des Anwendungsbereichs der Vorschrift. Sie könnte auch zum Nachteil des Angeklagten ausschlagen. Zu denken ist etwa an den Fall, daß die Ermittlung einer anderen Straftat gleichzeitig ein Alibi bezüglich des angeklagten Tatvorwurfs begründet. Im Rechtsfolgenbereich würde eine unvollständige Würdigung der strafrechtlich erheblichen Verhaltensweisen des Täters die Gefahr einer Verfälschung seines Persönlichkeitsbildes heraufbeschwören ... .