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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1998


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Kai Peter Ziegler


X. Internationaler Menschenrechtsschutz

1. Europäische Menschenrechtskonvention

d) Die Verfahrensgarantien des Art. 6 Abs. 3 EMRK

       73. Der BGH untersagte in seinem Urteil vom 25.2.1998 (3 StR 490/97 - BGHSt 44, 46) die Beschlagnahme und die Verwertung von Unterlagen, die sich ein Beschuldigter erkennbar zu seiner Verteidigung in einem laufenden Strafverfahren angefertigt habe, gegen seinen Widerspruch. Der Angeklagte war vom LG wegen Mordes und versuchten Totschlags verurteilt worden. Laut Urteil hatte er seinem Opfer in Tötungsabsicht schwere, aber nicht tödliche Verletzungen beigebracht und es erst ca. 15 Minuten später getötet, als es aus seiner Bewußtlosigkeit erwacht sei, um wegen der vorherigen Tat nicht verfolgt zu werden. Der Angeklagte brachte hingegen vor, daß er seinem Opfer die tödlichen Verletzungen zusammen mit den übrigen Verletzungen beigebracht habe. Das LG begründete seine Überzeugung u.a. mit handschriftlichen Unterlagen, die der Angeklagte in seiner Zelle angefertigt hatte und die Darstellungen des Sachverhalts, Äußerungen zur Tat und Überlegungen zu Strafvorschriften und Möglichkeiten der Strafmilderung enthielten. Die Unterlagen waren beschlagnahmt und verwertet worden, obwohl der Angeklagte geltend gemacht hatte, daß die Unterlagen für seinen Verteidiger bestimmt gewesen seien. Das LG wies diesen Antrag ab, was nach Ansicht des BGH gegen Art. 6 Abs. 3 EMRK verstieß. Aus analoger Anwendung des § 97 Abs. 1 StPO i.V.m. Art. 2 Abs. 1 und 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 3 EMRK ergebe sich, daß Unterlagen, die sich ein Beschuldigter erkennbar zu seiner Verteidigung in einem gegen ihn laufenden Strafverfahren anfertige, weder beschlagnahmt noch gegen seinen Widerspruch verwertet werden dürften. Dem rechtsstaatlichen Gebot, dem Beschuldigten jederzeit die Möglichkeit einer geordneten und effektiven Verteidigung zu geben, gebühre bei der Abwägung mit dem Interesse an einer funktionierenden Strafrechtspflege der Vorrang, da das Verteidigungsrecht in erheblichem Maße beeinträchtigt würde, wenn Verteidigungsunterlagen beschlagnahmt und zu Lasten des Beschuldigten verwertet werden könnten. Die Vorbereitung und Durchführung einer Verteidigung sei ohne Aufzeichnungen häufig unmöglich, so daß die Gefahr der Beschlagnahme und Verwertung von Unterlagen eine sachgerechte Verteidigung hindern würde. Fertige ein Beschuldigter aber Unterlagen erkennbar zu Zwecken seiner Verteidigung an, so mache es keinen Unterschied, ob sie für ihn selbst oder für seinen Verteidiger bestimmt seien.

       74. Das LG Mainz erklärte in seinem Beschluß vom 22.10.1998 (1 Qs 225/98 - NJW 1999, 1271), daß sich aus Art. 25 GG keine Bindungswirkung deutscher Gerichte an Entscheidungen des EGMR herleiten lasse. Bis zu einer Regelung des Akteneinsichtsrechts von Beschuldigten durch den deutschen Gesetzgeber gelte der Grundsatz des § 174 Abs. 1 StPO fort, wonach nur dem Verteidiger ein Akteneinsichtsrecht zustehe. Der sich selbst verteidigende Antragsteller legte gegen den Beschluß des AG, seinen Antrag auf Akteneinsicht zu verwerfen, Beschwerde zum LG ein, der nicht abgeholfen wurde. Das LG führte aus, daß Beschuldigte, die sich zulässigerweise selbst verteidigten, kein Recht auf Akteneinsicht hätten, da gem. § 147 Abs. 1 StPO nur der Verteidiger das Recht auf Akteneinsicht besitze und das BVerfG dies bestätigt habe. Es sei daher Sache des Gesetzgebers, eine entsprechende Norm zu erlassen. Daran habe auch die Entscheidung des EGMR in einem französischen Fall nichts geändert,88 worin der EGMR dem Beschuldigten zur Vorbereitung auf eine sachgerechte Verteidigung ein Akteneinsichtsrecht aufgrund von Art. 6 Abs. 3 und 1 EMRK gegen die Entscheidung eines französischen Gerichts gewährt habe. Es ergebe sich nämlich weder aus Völkerrecht, noch aus nationalem Recht eine unmittelbare Bindung der deutschen Gerichte an die Entscheidungen des EGMR. Die EMRK begründe keine Bindungswirkung, da sie lediglich Pflichten für die Vertragsstaaten schaffe, deren Umsetzung jedoch der jeweiligen Rechtsordnung überlasse. Aus Art. 25 GG lasse sich ebensowenig eine Bindungswirkung herleiten, da hiernach die deutschen Gerichte die Urteile internationaler Gerichte nur insoweit zu beachten hätten, als deren Rechtskraft reiche; diese beziehe sich aber nur auf die Vertragsstaaten, die an dem konkreten Verfahren vor dem Gerichtshof beteiligt seien.

      



      88 EGMR, Urteil vom 18.3.1997, Foucher./.Frankreich, ECHR Yearbook 40 (1997), 234.