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b. Asylrecht
60. Im Berichtszeitraum wurde das Asylrecht grundlegend reformiert. Am 28. Juni 1993 erfolgte eine Änderung des Grundgesetzes. Mit dieser wurde ein neuer Art. 16 a in das Grundgesetz eingefügt, zugleich wurde der bisherige Art. 16 Abs. 2 Satz 2 aufgehoben. Damit sind die verfassungsrechtlichen Vorgaben für das Asylrecht in Art. 16 a GG zusammengefaßt:
"(1) Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. (2) Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten sichergestellt ist. Die Staaten außerhalb der Europäischen Gemeinschaften, auf die die Voraussetzungen des Satzes 1 zutreffen, werden durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, bestimmt. In den Fällen des Satzes 1 können aufenthaltsbeendende Maßnahmen unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden. (3) Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können Staaten bestimmt werden, bei denen aufgrund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Es wird vermutet, daß ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, daß er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird. (4) Die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen wird in den Fällen des Absatzes 3 und in anderen Fällen, die offensichtlich unbegründet sind oder als offensichtlich unbegründet gelten, durch das Gericht nur ausgesetzt, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme bestehen; der Prüfungsumfang kann eingeschränkt werden und verspätetes Vorbringen unberücksichtigt bleiben. Das Nähere ist durch Gesetz zu bestimmen. (5) Die Absätze 1 bis 4 stehen völkerrechtlichen Verträgen von Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften untereinander und mit dritten Staaten nicht entgegen, die unter Beachtung der Verpflichtungen aus dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren Anwendung in den Vertragsstaaten sichergestellt sein muß, Zuständigkeitsregelungen für die Prüfung von Asylbegehren einschließlich der gegenseitigen Anerkennung von Asylentscheidungen treffen." |
61. Die Änderungen im Asylrecht haben auch zu Praxis auf zwischenstaatlicher Ebene geführt. Die Bundesregierung trat für eine gesamteuropäische Regelung des Asylrechts ein132.
Eine bilaterale Vereinbarung wurde im Berichtszeitraum zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Polen über die Zusammenarbeit hinsichtlich der Auswirkung von Wanderungsbewegungen geschlossen133. Mit diesem Abkommen soll eine Überforderung Polens durch die Neuregelung des deutschen Asylrechts vermieden werden134. Das Abkommen enthält eine Bestätigung der jeweiligen Verpflichtungen aus dem Übereinkommen zwischen den Regierungen der Schengen-Staaten und der Regierung der Republik Polen betreffend die Rückübernahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt vom 29. März 1991135. Die Bundesregierung verpflichtet sich darüber hinaus gemäß Art. 2, sich an den Kosten zu beteiligen, die die Regierung der Republik Polen im Zusammenhang mit dem Ausbau der Institutionen zu tragen hat, die sich mit der Prüfung von Asylanträgen oder Anträgen auf die Anerkennung als Flüchtling, sowie mit der Ausbildung von Personal beschäftigen, das Verfahren dieser Art bearbeitet. Die Bundesregierung verspricht, hierzu auch administrative Hilfe zu gewähren. Ebenso ist in Art. 3 technische Unterstützung vorgesehen.
62. Am 15. Juli 1993 erging das Zustimmungsgesetz zu dem Schengener Übereinkommen vom 19. Juni 1990 betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen136. In Kapitel 7 des Schengener Übereinkommens sind Vorschriften über die Zuständigkeit für die Behandlung von Asylbegehren getroffen. Gemäß Art. 29 Abs. 1 verpflichten sich die Vertragsparteien dazu, jedes Asylbegehren, das von einem Drittausländer im Hoheitsgebiet einer der Vertragsparteien gestellt wird, zu behandeln. Art. 29 Abs. 2 stellt allerdings klar, daß diese Verpflichtung nicht dazu führt, daß in allen Fällen dem Asylbegehrenden die Einreise in das Hoheitsgebiet der betreffenden Vertragspartei gewährt werden muß oder er sich dort aufhalten kann. Vielmehr behält sich jede Vertragspartei ausdrücklich das Recht vor, einen Asylbegehrenden nach Maßgabe ihres nationalen Rechts und unter Berücksichtigung ihrer internationalen Verpflichtungen in einen Drittstaat zurück- oder auszuweisen. Art. 30 des Schengener Übereinkommens regelt die Frage der Zuständigkeit für die Behandlung eines Asylbegehrens wie folgt: Im Falle eines Sichtvermerks oder der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ist diejenige Vertragspartei zuständig, welche den Sichtvermerk bzw. die Aufenthaltserlaubnis erteilt hat. Für den Fall, daß keine Sichtvermerkspflicht besteht, oder für den Fall, daß der Asylbegehrende in das Hoheitsgebiet der Vertragsparteien eingereist ist, ohne in Besitz eines oder mehrerer gültiger Grenzübertrittspapiere zu sein, ist diejenige Vertragspartei zuständig, über deren Außengrenze der Asylbegehrende eingereist ist. Art. 33 enthält eine Rückübernahmeverpflichtung für die zuständige Vertragspartei, für den Fall, daß der Asylbegehrende sich während der Dauer des Asylverfahrens unrechtmäßig im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei aufhält. Die gleiche Verpflichtung trifft die zuständige Vertragspartei, wenn ein Drittausländer, dessen Asylbegehren endgültig negativ abgeschlossen ist, sich in das Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei begeben hat. Die Art. 37 und 38 regeln Fragen der Unterrichtung und Zusammenarbeit. Der Exekutivausschuß der Gruppe der Schengen-Staaten beschloß am 22. Dezember 1994, daß das Inkraftsetzen am 26. März 1995 erfolgen solle137. 63. Am 21.12.1993 leitete die Bundesregierung das Ratifikationsverfahren zu dem Übereinkommen vom 15. Juni 1990 über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft gestellten Asylantrags (Dubliner Übereinkommen) ein138. Die Bundesregierung betonte in ihrer Denkschrift zum Übereinkommen, daß mit ihm vermieden werden solle, daß Asylsuchende innerhalb des Gemeinschaftsgebiets zu "refugees in orbit" werden, für deren Asylantrag sich aus formalen Gründen letztlich kein Mitgliedstaat verantwortlich fühle, oder daß ein Ausländer gleichzeitig oder nacheinander mehrere Asylanträge in mehreren Mitgliedstaaten stelle. Die Bundesregierung wies zugleich auf den Zusammenhang mit dem Schengener Durchführungsübereinkommen vom 19. Juni 1990 hin139. Sie führte aus, daß die Vertragsstaaten des Schengener Durchführungsübereinkommens beabsichtigten, nach Inkrafttreten des Dubliner Übereinkommens die asylrechtlichen Bestimmungen des Schengener Durchführungsübereinkommens nicht mehr anzuwenden. Dies solle durch ein besonderes Protokoll klargestellt werden, das den zuständigen Ministern und Staatssekretären der Schengener Vertragsstaaten im Entwurf vorliege. Das Dubliner Abkommen regelt die Zuständigkeitsfrage in den Art. 47 in einer den Bestimmungen des Schengener Übereinkommens vergleichbaren Weise. Danach ist insbesondere derjenige Mitgliedstaat zuständig, der dem Asylbewerber eine Aufenthaltserlaubnis oder ein Visum erteilt hat, oder auch derjenige Mitgliedstaat, über den ein Asylbewerber - rechtmäßig oder unrechtmäßig - in das Hoheitsgebiet der Europäischen Gemeinschaft eingereist ist. Soweit hierdurch kein zuständiger Staat bestimmt werden kann, ist der erste Mitgliedstaat, bei dem der Asylantrag gestellt wurde, gemäß Art. 8 zuständig. Die Art. 14 und 15 enthalten Bestimmungen über Informationsaustausch und Zusammenarbeit im Bereich des Datenaustausches.
64. Am 9. Juli 1993 wurden das Übereinkommen und die Absprache zur technischen Durchführung des Übereinkommens betreffend die Rückübernahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt zwischen Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg, den Niederlanden und Polen vom 29. März 1991 bekanntgemacht. Sie ist nach Art. 6 Abs. 3 am 1. Mai 1991 in Kraft getreten140. Gemäß Art. 1 übernimmt jede Vertragspartei auf Antrag einer anderen Vertragspartei formlos die Personen, die im Hoheitsgebiet der ersuchenden Vertragspartei die geltenden Voraussetzungen für die Einreise oder den Aufenthalt nicht oder nicht mehr erfüllen, soweit nachgewiesen oder glaubhaft gemacht wird, daß sie die Staatsangehörigkeit der ersuchenden Vertragspartei besitzen. Die gleiche Verpflichtung gilt gemäß Art. 2 für die Vertragspartei, über deren Außengrenze eine Person eingereist ist, die im Hoheitsgebiet der ersuchenden Vertragspartei die geltenden Voraussetzungen für die Einreise oder für den Aufenthalt nicht oder nicht mehr erfüllt. Dabei wird unter Außengrenze diejenige zuerst überschrittene Grenze verstanden, die nicht Binnengrenze der Vertragsparteien des Schengener Übereinkommens vom 14. Juni 1985 ist.
65. Am 30. Juni 1993 erging das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG)141. � 3 Abs. 1 dieses Gesetzes sieht vor, daß der notwendige Bedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts durch Sachleistungen gedeckt wird. Einzelheiten und Ausnahmen werden in den Abs. 24 des � 3 und in � 4 geregelt. In einer Antwort auf eine Schriftliche Anfrage machte die Bundesregierung deutlich, daß sie es unter rechtlichen und politischen Gesichtspunkten für möglich hält, das Prinzip der Sachleistung für Asylbewerber auch auf Personen anzuwenden, die bereits vor der neuen Asylgesetzgebung den Antrag auf Asyl gestellt haben142.
66. In einer Antwort auf eine Schriftliche Anfrage nahm die Bundesregierung zur Frage Stellung, ob es im Zusammenhang mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker eine allgemeine Regel des Völkerrechts zur vorzeitigen Ausweisung von Asylbewerbern gibt:
"Es gibt keine allgemeine Regel des Völkerrechts, die Staaten zur Ausweisung oder vorzeitigen Ausweisung von Asylbewerbern verpflichtet. Soweit der Bundesregierung bekannt ist, wird auch in der Literatur keine abweichende Auffassung vertreten." |
67. Die Bundesregierung nahm in zahlreichen Antworten auf Schriftliche Anfragen oder Kleine Anfragen im Deutschen Bundestag Stellung zu Einzelfragen des Asylrechts. So antwortete sie auf die Frage nach den Möglichkeiten, unter der derzeitigen Rechtslage straffällig gewordene Asylbewerber abzuschieben:
"Asylbewerber, d. h. Ausländer, über deren Asylantrag noch nicht rechtskräftig entschieden worden ist, haben nach � 52 AuslG denselben Abschiebeschutz wie politisch Verfolgte. Diese genießen nach � 51 Abs. 3 AuslG in Übereinstimmung mit Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention einen besonderen Abschiebungsschutz. Ein politisch Verfolgter darf in den Verfolgerstaat nur abgeschoben werden, wenn er aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder er eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde. [...] Diese Abschiebungsschranke kann nach Auffassung der Bundesregierung vor allem im Hinblick auf Art. 16 a GG nicht herabgesetzt werden."143 |
68. Auf die Frage, ob die Bundesregierung die Abschiebung von als Asylbewerber abgelehnten und dann zum Wehrdienst in den serbischen Streitkräften zur Verfügung stehenden Personen für einen Verstoß gegen den Grundgedanken der VN-Embargopolitik halte, welche die militärischen Möglichkeiten Restjugoslawiens einschränken will, antwortete die Bundesregierung:
"Grundgedanke der Embargopolitik ist es, die militärischen Möglichkeiten Restjugoslawiens unter den gegenwärtigen Verhältnissen einzuschränken. Die Bundesregierung hat diese Zielsetzung abzuwägen mit ausländer- und asylpolitischen Notwendigkeiten. Die gegenwärtig vorliegenden Erkenntnisse über 'Restjugoslawien' geben keinen Anlaß für einen generellen Abschiebestop."144 |
69. Im Rahmen ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage vertrat die Bundesregierung die Auffassung, daß die Regelung des � 68 Abs. 2 AuslG, nach der Minderjährigkeit kein Abschiebungshindernis ist, weder mit dem Haager Minderjährigenschutzübereinkommen noch mit der VN Kinderkonvention unvereinbar sei145.