106. Zu den Beratungen über ein Zusatzprotokoll zur EMRK in bezug auf den Schutz nationaler Minderheiten und zu der Erarbeitung einer Rahmenkonvention von Minderheiten erklärte die Bundesregierung, daß sie die Position der Parlamentarischen Versammlung des Europarates teile, die empfohlen habe, die Rechte nationaler Minderheiten in einem Zusatzprotokoll zur EMRK festzulegen. Demgegenüber wollten die Staats- und Regierungschefs lediglich die kulturellen Minderheitenrechte in einem entsprechenden Protokoll festhalten, die politischen Rechte dagegen in einer unverbindlichen Rahmenkonvention. Es bestehe jedoch Konsens darüber, daß ein ausreichender Kontrollmechanismus vorhanden sein müsse.257
107. Im Hinblick auf die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen wies die Bundesregierung darauf hin, daß sie sich bereit erklärt habe, den Schutz der niederdeutschen Sprache gemäß Teil II der Charta zu notifizieren. Zu einer möglichen Einstufung des Niederdeutschen nach Teil III der Charta führte die Bundesregierung aus, daß die entsprechenden Schutz- und Fördermaßnahmen überwiegend in die Zuständigkeit der betroffenen Länder fallen und diese finanziell belasten würden. Die Bundesregierung könne daher eine endgültige Entscheidung darüber, welche Sprachen neben Dänisch und Sorbisch zu Teil III der Charta angemeldet werden sollten, erst dann treffen, wenn hierzu ein abgestimmtes Votum der Länder vorliege.258 Im Hinblick auf das von den deutschen Sinti und Roma gesprochene Romanes erklärte die Bundesregierung auf Anfrage im Deutschen Bundestag, daß sie mit den beteiligten Länderregierungen gemeinsam der Auffassung sei, daß es sich dabei um eine traditionell in Deutschland gesprochene Minderheitensprache entsprechend der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen handele. In Übereinstimmung mit der ständigen Vertragskommission der Länder habe die Bundesregierung den Schutz des Romanes nach Kapitel II (Art. 7 Abs. 5) als Sprache ohne Sprachterritorium ins Auge gefaßt. Der Zentralrat deutscher Sinti und Roma habe demgegenüber einen Schutz gemäß Kapitel III gefordert. Die Erfüllung eines solchen Schutzes liege jedoch überwiegend in der Zuständigkeit der Länder. Es bedürfe eines abgestimmten Votums der Länder, welche Verpflichtungen zum Schutz des von deutschen Sinti und Roma gesprochenen Romanes eingegangen werden können. Diese Entscheidung zur Vorbereitung des Ratifizierungsverfahrens stehe noch aus.259
108. Auf die Lage der Minderheitengesetzgebung in Polen, in der Slowakischen Republik und in der Tschechischen Republik ging die Bundesregierung auf Parlamentarische Anfrage ausführlich ein. Sie hob im Hinblick auf die Tschechische Republik und die Slowakische Republik ausdrücklich hervor, daß die völkerrechtliche Verbindlichkeit des Minderheitenstandards der KSZE-Dokumente im Vertrag vom 27. Februar 1992 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der CSFR über gute nachbarschaftliche und freundschaftliche Zusammenarbeit ausdrücklich festgeschrieben sei, in den sowohl die Tschechische Republik als auch die Slowakische Republik eingetreten seien.260
109. Gegenstand einer Parlamentarischen Anfrage war auch das am 9. Juni 1994 vom Parlament der Republik Lettland in zweiter Lesung verabschiedete Staatsbürgerschaftsgesetz. Danach können Anwohner ohne lettische Staatsangehörigkeit, die nach der Annexion Lettlands durch Rußland (1940) ins Land kamen, und deren Nachkommen unter bestimmten Bedingungen die lettische Staatsangehörigkeit erwerben. Betroffen davon sind nach Schätzungen etwa 600.000 zumeist russischstämmige Personen. Das Gesetz erlaubt eine sofortige Einbürgerung nur für bestimmte Gruppen von Personen, etwa Ehepartner von lettischen Staatsbürgern. Diejenigen Personen nicht-lettischer Volkszugehörigkeit, die in Lettland geboren sind, sollen bis zum Jahr 2000 eingebürgert werden. Nach dem Jahr 2000 gilt jedoch eine Naturalisierungsquote von 0,1% der Anzahl der lettischen Staatsbürger im jeweiligen Vorjahr. Nach lettischen Schätzungen könnten bis zu 250.000 Personen von dieser Quotenregelung betroffen sein. Die Bundesregierung hat ausgeführt, daß sie gemeinsam mit ihren Partnern in der EU, zusammen mit dem Europarat und der KSZE Teile des Gesetzes und insbesondere die Quotenregelung kritisch kommentiert und Empfehlungen ausgesprochen habe. Sie habe die lettische Regierung dazu aufgerufen, alles zu tun, um die Voraussetzungen für eine Integration der bleibewilligen russischsprachigen Bevölkerung zu schaffen. Weiterhin heißt es:
"Die Bundesregierung hat gemeinsam mit ihren EU-Partnern in einer EU-Troikademarche vom 20. Juni 1994 die lettische Regierung sowie das lettische Parlament aufgerufen, die Empfehlungen von KSZE und Europarat bei der dritten Lesung des Gesetzes zu berücksichtigen."261 |
110. Die Lage der deutschen Minderheiten in den osteuropäischen Staaten war mehrfach Gegenstand parlamentarischer Erörterungen. Im Hinblick auf den Gebrauch und die Vermittlung der deutschen Sprache an Angehörige der deutschen Minderheit in der Republik Polen hat die Bundesregierung auf Anfrage ausgeführt: "Der Erlaß von Lehrplänen für das nationale Schulwesen fällt in die Souveränität eines jeden Staates." Sie hat aber darauf hingewiesen, daß das polnische Erziehungsministerium seit längerem die Arbeit an Richtlinien für das Fach Deutsch als Muttersprache veranlaßt habe. Weiterhin wurde ausgeführt, daß die Bundesrepublik Deutschland den Deutschunterricht in Polen in vielfältiger Form fördere.262
111. Im März fand in Bonn die V. Sitzung der deutsch-russischen Regierungskommission für die Angelegenheiten der Rußlanddeutschen statt. In dem abschließenden Kommuniqué heißt es:
"Beide Seiten begrüßen die Idee zur Selbstorganisation der Deutschen Rußlands, die auf die Bestätigung von deren nationaler und kultureller Identität gerichtet ist."263 |
"Beide Seiten sehen die Schaffung nationaler Gemeinderäte und Organe der Selbstverwaltung im Rayon Kamyschin, Gebiet Wolgograd, und im Rayon Engels, Gebiet Saratow, als ersten praktischen Schritt zur Erfüllung des Erlasses des Präsidenten der Russischen Föderation 'Über Sofortmaßnahmen zur Rehabilitierung der Rußlanddeutschen' an."264 |
112. Auf Anfrage im Bundestag führte die Bundesregierung zu Konfiskationen von Eigentum aufgrund der Benes-Dekrete in der Tschechoslowakei und ihre Bedeutung für die dort lebende deutsche Minderheit aus:
"Die Tschechische Republik hat als zeitliche Grenze für die Anerkennung von Restitutions- oder Entschädigungsansprüchen das Datum des Antritts der ersten kommunistischen Regierung (25. Februar 1948) gesetzlich festgelegt. In der Folge werden Ansprüche von Deutschen, Ungarn, Tschechen, Slowaken und allen weiteren von der Enteignung durch Benes-Dekrete Betroffenen nicht berücksichtigt. Von einer Diskriminierung der deutschen Minderheit kann insofern keine Rede sein. Die tschechische Seite ist nie im Unklaren gelassen worden, daß die Bundesregierung die Vertreibung und entschädigungslose Enteignung der Sudetendeutschen – ungeachtet des historischen Kontextes – als Unrecht betrachtet."265 |