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Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1999


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Silja Vöneky/Markus Rau


XVI. Internationale Organisationen

2. Militärbündnisse

     205. Anläßlich des 50. Jahrestages der Gründung der NATO erklärte Bundeskanzler Schröder am 22. April 1999 in der 35. Sitzung des Deutschen Bundestages:

     "Fünfzig Jahre NATO, das können gerade wir Deutsche nicht hoch genug schätzen. Das sind fünfzig Jahre Entwicklung in Frieden, in Freiheit und Demokratie. Nicht die militärische Bilanz, die es zu ziehen gilt, ist wirklich wichtig. Das Entscheidende bei der Bewertung ist: Die NATO war von Beginn an und heute mehr denn je ein Bündnis auf dem Boden gemeinsamer Werte. Eine Zukunft hat die NATO angesichts der heutigen Weltlage gerade als Bündnis für Frieden, für Demokratie und (...) für Menschenrechte.
     Wir haben gesehen: Die Gefahr bewaffneter Konflikte und kriegerischer Auseinandersetzungen besteht vor allen Dingen dort, wo es an Demokratie mangelt und wo Diktatoren ihren Völkern ihren Willen aufzwingen wollen und sich entsprechend verhalten. Diese Erkenntnis bestimmt das Handeln der NATO als Verteidigungsgemeinschaft."633

     206. Neues Strategisches Konzept der NATO

     Auf ihrem Gipfeltreffen am 23. und 24. April 1999 in Washington billigten die Staats- und Regierungschefs der NATO das neue Strategische Konzept des Bündnisses. In dem Konzept heißt es zunächst, daß wesentlicher und fortdauernder Zweck der NATO sei, die Freiheit und Sicherheit aller ihrer Mitglieder mit politischen und militärischen Mitteln zu gewährleisten. Auf der Grundlage der gemeinsamen Werte Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit strebe das Bündnis seit seiner Gründung eine gerechte und dauerhafte Friedensordnung in Europa an. Dies werde es auch weiterhin tun. Um ihr wesentliches Ziel zu erreichen, nehme die NATO als eine Allianz von Nationen, die dem Washingtoner Vertrag und der Charta der Vereinten Nationen verpflichtet sei, die folgenden grundlegenden Sicherheitsaufgaben wahr:

     Sie biete eines der unverzichtbaren Fundamente für ein stabiles euroatlantisches Sicherheitsumfeld, gegründet auf dem Wachsen demokratischer Einrichtungen und auf dem Bekenntnis zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten, in dem kein Staat in der Lage sei, einen anderen Staat durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt einzuschüchtern oder einem Zwang auszusetzen;

     - sie diene gemäß Art. 4 des Washingtoner Vertrags als ein wesentliches transatlantisches Forum für Konsultationen unter den Verbündeten über alle Fragen, die ihre vitalen Interessen einschließlich möglicher Entwicklungen berührten, die Risiken für die Sicherheit der Bündnismitglieder mit sich brächten und als Forum für sachgerechte Koordinierung ihrer Bemühungen in Bereichen, die sie gemeinsam angingen;

     - sie schrecke von jeder Aggressionsdrohung und wehre jeden Angriff gegen einen NATO-Mitgliedstaat ab, wie es in den Art. 5 und 6 des Washingtoner Vertrages vorgesehen sei.

     Schließlich stärke sie die Sicherheit und Stabilität des euroatlantischen Raums durch Krisenbewältigung und Partnerschaft.634

     Das Konzept widmet sich sodann dem strategischen Umfeld, in dem das Bündnis wirke und das stetem Wandel unterworfen sei. Zu den Risiken, denen das Bündnis unterworfen sei, gehörten Ungewißheit und Instabilität im und um den euroatlantischen Raum sowie die mögliche Entstehung regionaler Krisen an der Peripherie des Bündnisses, die sich rasch entwickeln könnten. Einige Länder im und um den euroatlantischen Raum sähen sich ernsten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Schwierigkeiten gegenüber. Ethnische und religiöse Rivalitäten, Gebietsstreitigkeiten, unzureichende oder fehlgeschlagene Reformbemühungen, die Verletzung von Menschenrechten und die Auflösung von Staaten könnten zu lokaler und selbst regionaler Instabilität führen. Die daraus resultierenden Spannungen könnten zu Krisen führen, die die euroatlantische Stabilität berührten, sowie zu menschlichem Leid und bewaffneten Konflikten. Solche Konflikte könnten, indem sie auf benachbarte Staaten einschließlich NATO-Staaten übergriffen oder in anderer Weise, auch die Sicherheit des Bündnisses oder anderer Staaten berühren. Das Vorhandensein starker nuklearer Streitkräfte außerhalb des Bündnisses stelle ebenfalls einen bedeutsamen Faktor dar, dem das Bündnis Rechnung tragen müsse, wenn Sicherheit und Stabilität im euroatlantischen Raum aufrechterhalten werden sollten. Weiteren Anlaß zu großer Sorge gebe die Verbreitung von ABC-Waffen und ihrer Trägermittel. Die weltweite Verbreitung von Technologien, die zur Herstellung von Waffen genutzt werden könnten, könne zu größerer Verfügbarkeit von hochentwickelten militärischen Fähigkeiten führen und es Gegnern erlauben, sich hochwirksame luft-, land- und seegestützte Offensiv- und Defensivsysteme, Marschflugkörper und andere fortgeschrittene Waffensysteme zu verschaffen.635

     In diesem Zusammenhang wird ausdrücklich hervorgehoben, daß die Sicherheit des Bündnisses auch den globalen Kontext berücksichtigen müsse:

     "24. (...) Sicherheitsinteressen des Bündnisses können von anderen Risiken umfassenderer Natur berührt werden, einschließlich Akte des Terrorismus, der Sabotage und des organisierten Verbrechens sowie der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen. Die unkontrollierte Bewegung einer großen Zahl von Menschen, insbesondere als Folge bewaffneter Konflikte, kann ebenfalls Probleme für die Sicherheit und Stabilität des Bündnisses aufwerfen. Im Bündnis gibt es Mechanismen für Konsultationen nach Art. 4 des Washingtoner Vertrages sowie gegebenenfalls zur Koordinierung der Maßnahmen der Bündnispartner einschließlich ihrer Reaktionen auf derartige Risiken."636

     Zum Sicherheitsansatz des Bündnisses im 21. Jahrhundert heißt es in dem Konzept zunächst, daß die NATO sich zu einer starken und dynamischen Partnerschaft zwischen Europa und Nordamerika zur Unterstützung der Werte und der Interessen, die sie miteinander teilten, bekenne. Die Sicherheit Europas und diejenige Nordamerikas seien unteilbar. Daher sei das Bekenntnis zur unverzichtbaren transatlantischen Bindung und zur kollektiven Verteidigung der Mitglieder des Bündnisses von grundlegender Bedeutung für seine Glaubwürdigkeit und für die Sicherheit und Stabilität des euroatlantischen Raums. Die europäischen Verbündeten hätten Beschlüsse gefaßt, die sie in die Lage versetzen sollten, im sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich mehr Verantwortung zu übernehmen, um Frieden und Stabilität des euroatlantischen Raums und damit die Sicherheit aller Verbündeten zu verbessern. Auf der Grundlage der vom Bündnis in Berlin 1996 und danach gefaßten Beschlüsse werde die Entwicklung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität innerhalb der NATO fortgesetzt. Dieser Prozeß werde eine enge Zusammenarbeit zwischen der NATO, der WEU und, falls angebracht, der Europäischen Union erfordern.637

     Zentrale Bedeutung für die sicherheitspolitischen Ziele der Allianz hätten weiterhin die Aufrechterhaltung einer angemessenen militärischen Fähigkeit und die eindeutige Bereitschaft, gemeinsam zur kollektiven Verteidigung zu handeln. Militärische Fähigkeiten, die für das gesamte Spektrum unvorhersehbarer Umstände wirksam seien, stellten auch die Grundlage für die Fähigkeit des Bündnisses dar, durch nicht unter Art. 5 fallende Krisenreaktionseinsätze zur Konfliktverhütung und Krisenbewältigung beizutragen.638

     In bezug auf Konfliktverhütung und Krisenbewältigung enthält das Konzept folgende Ausführungen:

     "31. Im Zuge ihrer Politik der Friedenserhaltung, der Kriegsverhütung und der Stärkung von Sicherheit und Stabilität - wie in den grundlegenden Sicherheitsaufgaben dargelegt - wird die NATO in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen darum bemüht sein, Konflikte zu verhüten oder, sollte eine Krise auftreten, in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht zu deren wirksamer Bewältigung beitragen, einschließlich durch die Möglichkeit der Durchführung von nicht unter Art. 5 fallenden Krisenreaktionseinsätzen. Die Bereitschaft des Bündnisses, solche Einsätze durchzuführen, unterstützt das übergeordnete Ziel der Stärkung und Erweiterung von Stabilität und beinhaltet oft die Beteiligung der Partner der NATO. Die NATO erinnert an ihr 1994 in Brüssel gemachtes Angebot, von Fall zu Fall in Übereinstimmung mit ihren eigenen Verfahren friedenswahrende und andere Operationen unter der Autorität des VN-Sicherheitsrats oder der Verantwortung der OSZE zu unterstützen, unter anderem auch durch die Bereitstellung von Ressourcen und Fachwissen der Allianz. In diesem Zusammenhang erinnert das Bündnis an seine späteren Beschlüsse in bezug auf Krisenreaktionseinsätze auf dem Balkan. Unter Berücksichtigung der Notwendigkeit von Bündnissolidarität und -zusammenhalt bleibt die Beteiligung an einer solchen Operation oder einem solchen Einsatz den Beschlüssen der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen Verfassungen vorbehalten.
     32. Die NATO wird von Partnerschaft, Zusammenarbeit und Dialog sowie von ihren Beziehungen zu anderen Organisationen vollen Gebrauch machen, um zur Verhinderung von Krisen und, sollten diese dennoch entstehen, zu ihrer Entschärfung in einem frühen Zeitpunkt beizutragen. Ein kohärenter Ansatz zur Krisenbewältigung wird, wie bei jeder Gewaltanwendung durch das Bündnis, die Auswahl und Koordinierung geeigneter Reaktionen durch die politischen Stellen des Bündnisses aus einem Spektrum sowohl politischer als auch militärischer Maßnahmen und deren genaue politische Kontrolle in jedem Stadium erforderlich machen."639

     207. In der Erklärung der Staats- und Regierungschefs, die am Treffen des Nordatlantikrates am 23. und 24. April 1999 in Washington DC teilnahmen haben, bekräftigen diese, daß die kollektive Verteidigung auch nach Verabschiedung des neuen Strategischen Konzepts die Kernaufgabe der NATO bleibe.640 Weiter heißt es in der Erklärung:

     "7. Wir sind unverändert entschlossen, denjenigen entschieden entgegenzutreten, die Menschenrechte verletzen, Krieg führen und Gebiet erobern. Wir werden sowohl die politische Solidarität als auch die Streitkräfte aufrechterhalten, die erforderlich sind, um unsere Völker zu schützen und den sicherheitspolitischen Herausforderungen des nächsten Jahrhunderts zu begegnen. Wir verpflichten uns, unsere Verteidigungsfähigkeit zu verbessern, um das ganze Spektrum der Bündnisaufgaben des 21. Jahrhunderts erfüllen zu können. Wir werden auch weiterhin durch Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitungsmaßnahmen Vertrauen bilden und Sicherheit schaffen. Wir verurteilen erneut den Terrorismus und bekräftigen unsere Entschlossenheit, uns vor dieser Geisel zu schützen."641

     208. Das auf dem Washingtoner Gipfel im April 1999 verabschiedete Kommuniqué der Staats- und Regierungschefs des Bündnisses führt bezüglich des überarbeiteten Strategischen Konzepts der NATO aus:

     "5. Als Teil der Anpassung der Allianz an die neuen Sicherheitsherausforderungen haben wir unser Strategisches Konzept aktualisiert, um es voll in Einklang mit dem neuen Sicherheitsumfeld des Bündnisses zu bringen. Das aktualisierte Konzept bekräftigt unsere Verpflichtung zu kollektiver Verteidigung und zur transatlantischen Bindung; es trägt den Herausforderungen Rechnung, denen sich die Allianz heute gegenüber sieht; es repräsentiert eine Allianz, die bereit ist und über das volle Spektrum an Fähigkeiten verfügt, um Sicherheit und Stabilität des euroatlantischen Raums zu festigen; es bekräftigt unser Bekenntnis zum Aufbau der ESVI innerhalb der Allianz; es stellt die vertiefte Rolle der Partnerschaft und des Dialogs heraus; es unterstreicht die Notwendigkeit zur Entwicklung des vollen Potentials an Verteidigungsfähigkeiten zur Abdeckung des Spektrums der Allianzaufgaben; hierzu gehören auch besser dislozierbare Streitkräfte mit höherer Durchhalte- und Überlebensfähigkeit sowie größerer Wirksamkeit im Einsatz; das aktualisierte Strategische Konzept gibt den Militärbehörden der NATO die entsprechenden Leitlinien an die Hand."642

     209. Bereits im Vorfeld des Washingtoner Gifeltreffens kam es zu zahlreichen Stellungnahmen zur veränderten Rolle der NATO und zu dem neuen Strategischen Konzept des Bündnisses. So legte Bundesverteidigungsminister Scharping in einer Rede vor dem Forum der Chefredakteure zur Sicherheitspolitik der Bundesakademie für Sicherheitspolitik am 26. Januar 1999 in Bad Neuenahr dar:

     "Die NATO wird immer mehr das zentrale Forum für die Wahrnehmung gemeinsamer sicherheitspolitischer Interessen der Bündnispartner. Dem muß das neue Strategische Konzept Rechnung tragen, das wir in Washington verabschieden werden. Es wird die Kernfunktionen und Aufgaben des Bündnisses festlegen - mit Blick auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Und es wird damit unseren Streitkräften die notwendigen Richtlinien geben, um auf der Grundlage gesicherter Verteidigungsfähigkeit das gesamte Spektrum künftiger Missionen wahrnehmen zu können.
     Kollektive Verteidigung und transatlantische Bindung bleiben unverzichtbare Wesensmerkmale der Allianz. Wir müssen aber auch angemessen berücksichtigen, daß sich die Allianz heute ganz neuen Aufgaben stellen muß - Aufgaben, die eine besondere politische Qualität haben: die Kooperation mit neuen Partnern und die Integration neuer Mitglieder, aber auch Krisenvorbeugung und Krisenmanagement. Viele dieser Aufgaben - wie die Einsätze in Bosnien und im Kosovo - reichen zunehmend über das Bündnisgebiet hinaus.
     Unser gemeinsames Ziel ist es unverändert, den Frieden zu erhalten, Krieg zu verhindern, die gemeinsame Sicherheit aller Bündnispartner zu gewährleisten und Konflikte vor einer Eskalation zu bewahren. Dem wird das neue Strategische Konzept Rechnung tragen. Und wir werden dieses Konzept gemeinsam verabschieden und gemeinsam tragen - in allen seinen Teilen. Denn Kohäsion und Konsens sind für uns unverzichtbar."643

     Am 6. Februar 1999 erklärte Bundeskanzler Schröder anläßlich der 35. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik, daß die neue NATO über einen gestärkten europäischen Pfeiler verfügen werde und sie dadurch insgesamt stärker werde. Aus dieser gestärkten Partnerschaft und aus dem gewachsenen europäischen Verantwortungsbewußtsein solle eine gemeinsame neue strategische Vision entwickelt werden: für eine Friedens- und Stabilitätsordnung, die auf den Werten von Menschenrechten, Gerechtigkeit und demokratischer, sozialer und ökologischer Entwicklung basiere.644

     Bundesverteidigungsminister Scharping äußerte sich am 18. April 1999 bei der Deutschen Atlantischen Gesellschaft in Bonn-Bad Godesberg zur neuen Rolle der NATO. Der Minister führte zunächst aus, daß die atlantische Allianz auch im 21. Jh. Kern und Motor der euroatlantischen Friedensordnung bleibe. Dafür gebe es im wesentlichen zwei Gründe: Zum einen habe sich die Allianz seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes in einem umfassenden Anpassungsprozeß auf die neue geopolitische Lage eingestellt; zum anderen habe das Bündnis einen Prozeß des Dialogs und der Kooperation mit den Nachbarn im Osten und im Süden eingeleitet, der die Allianz zu einem Stabilitätsanker für ganz Europa werden lasse.645 Hinsichtlich des anstehenden Gipfels der Allianz in Washington und des überarbeiteten strategischen Konzepts des Bündnisses erklärte Scharping sodann:

     "Auf dem Gipfel in Washington wird die Allianz ihre umfassende politisch-strategische Neuausrichtung in ein neues strategisches Konzept gießen. Dieses Konzept wird Auftrag und Selbstverständnis der neuen Allianz bis weit ins nächste Jahrhundert festlegen. Drei Punkte sind mir wichtig:
     Erstens: Kollektive Verteidigung und transatlantische Bindung bleiben unverzichtbare Wesensmerkmale der Allianz. Gleichzeitig hat die NATO angesichts der veränderten sicherheitspolitischen Herausforderungen neue Aufgaben übernommen - Aufgaben, die zunehmend in den Vordergrund gerückt sind: die Kooperation mit Partnern und die Integration neuer Mitglieder, Krisenvorbeugung und Krisenbewältigung. Es geht um unsere Verantwortung für Stabilität und Sicherheit in und für Europa. Mit einer globalen NATO hat dies gar nichts zu tun.
     Zweitens: Die neue Wirklichkeit im euroatlantischen Raum stellt uns allerdings vor die Wahl: Entweder wir treten krisenhaften Entwicklungen dort entgegen wo sie entstehen; oder wir müssen deren Folgen in Kauf nehmen, mit dem Risiko eines Übergreifens auf das Bündnisgebiet. Unsere Linie ist klar: Krisenvorbeugung muß am Ort ihres Entstehens ansetzen. Dafür brauchen wir ein breites Spektrum an politischen und militärischen Reaktionsmöglichkeiten. Präventive Ansätze zur Konfliktverhütung müssen mit entschlossener Krisenbewältigung und der Rückversicherung durch kollektive Verteidigung Hand in Hand gehen.
     Drittens: Das Bündnis wird im Rahmen der Überprüfung des Strategischen Konzeptes auch die Richtlinien für die Streitkräfte anpassen. Die militärischen Fähigkeiten müssen mit Blick auf das erweiterte Aufgabenspektrum der Allianz optimiert werden. Im früheren Jugoslawien sehen wir, daß Aufgaben der Krisenbewältigung höchste Anforderungen an Personal und Material stellen. Bestimmte Schlüsselfähigkeiten wie Flexibilität, Mobilität, Verlegbarkeit oder Durchhaltefähigkeit gewinnen an Bedeutung - gerade mit Blick auf eine schnelle und effektive Reaktion auf Krisen."646

     Um das neue Strategische Konzept der NATO ging es schließlich auch in der Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder vom 22. April 1999. Schröder erklärte:

     "Im überarbeiteten strategischen Konzept wird zusätzlich eine neue Kernfunktion verankert werden. Sie wird Antwort auf die neuen Herausforderungen für das Bündnis geben. Angesichts der neuen Bedrohungen muß unser vordringliches Ziel sein, die Sicherheit und die Stabilität auf unserem Kontinent zu stärken. Die durch die Allianz gewährte Mitwirkung der USA und deren Präsenz in Europa bleiben wesentliche Voraussetzungen für die Sicherheit auf unserem Kontinent."647

     210. Osterweiterung der NATO/Partnerschaft für den Frieden

     Auf dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der NATO am 22. und 23. April in Washington wurden Polen, Ungarn und die Tschechische Republik als neue Mitglieder der Allianz begrüßt. Im Kommuniqué der Staats- und Regierungschefs heißt es diesbezüglich:

     "Wir begrüßen aufs herzlichste die Teilnahme der drei neuen Bündnispartner - der Tschechischen Republik, Ungarns und Polens - an ihrem ersten Gipfeltreffen der Allianz. Mit ihrem Beitritt zum Nordatlantikvertrag wird ein neues Kapitel in der Geschichte der Atlantischen Allianz aufgeschlagen."648

     Die Staats- und Regierungschefs begrüßen in ihrem Kommuniqué ferner die Anstrengungen und Fortschritte, die beitrittswillige Länder seit dem letzten Treffen erzielt hätten, um politische, militärische und wirtschaftliche Reformen voranzubringen, und bekräftigten ihren Willen, die Zusammenarbeit mit beitrittswilligen Ländern weiter zu vertiefen und sie politisch und militärisch stärker in die Arbeit der Allianz einzubeziehen. Die Allianz erwarte, daß sie in den kommenden Jahren weitere Einladungen an Staaten aussprechen werde, die willens und fähig seien, die Verantwortlichkeiten und Pflichten der Mitgliedschaft zu übernehmen, insofern die NATO feststelle, daß die Aufnahme dieser Staaten den allgemeinen politischen und strategischen Interessen des Bündnisses dienten und die europäische Sicherheit und Stabilität insgesamt verbessert würden. Die Nationen, die ein Interesse an einem NATO-Beitritt bekundet hätten, würden weiterhin aktiv für eine zukünftige Mitgliedschaft in Erwägung gezogen. Kein demokratisches Land in Europa, dessen Beitritt die Ziele des Vertrages erfüllen würde, werde hiervon ausgeschlossen, ungeachtet seiner geographischen Lage und jeweils unter Berücksichtigung seiner eigenen Kriterien.649

     Die 1994 begründete Partnerschaft für den Frieden wurde von Bundeskanzler Schröder in seiner Regierungserklärung vom 22. April 1999 als "das erfolgreichste Programm des Bündnisses überhaupt" gewürdigt. In Bosnien, so Schröder weiter, habe diese Partnerschaft vor ihrer ersten großen Bewährungsprobe gestanden; diese habe sie eindrucksvoll bestanden. Heute gewährleiste die Allianz gemeinsam mit Rußland und anderen Partnern die Umsetzung des Friedensabkommens von Dayton für Bosnien und Herzegowina.650

     Auch das überarbeitete Strategische Konzept der NATO äußert sich zur Partnerschaft für den Frieden:

     "35. Die Partnerschaft für den Frieden (PfP) ist der Hauptmechanismus für den Aufbau praktischer Sicherheitsbeziehungen zwischen der Allianz und ihren Partnern sowie für die Verbesserung der Interoperabilität zwischen den Partnern und der NATO. Durch detaillierte Programme, die die Fähigkeiten und Interessen der individuellen Partner auf Transparenz in der nationalen Verteidigungsplanung und in den nationalen Verteidigungshaushalten, auf die demokratische Kontrolle der Streitkräfte, auf die Vorbereitung auf zivile Katastrophen und andere Notlagen und die Herausbildung der Fähigkeit zum Zusammenwirken hin, auch bei NATO-geführten PfP-Operationen gewährleisten. Das Bündnis bekennt sich zur Stärkung der Rolle der Partner in den Entscheidungs- und Planungsprozessen der PfP und bei der stärkeren Operationalisierung der PfP. Die NATO hat sich verpflichtet, mit jedem aktiven Teilnehmer an der Partnerschaft Konsultationen zu führen, falls dieser Partner eine direkte Bedrohung seiner territorialen Unversehrtheit, politischen Unabhängigkeit oder Sicherheit sieht."651

     Zur Rolle Rußlands in der euro-atlantischen Sicherheit heißt es in diesem Zusammenhang:

     "36. Rußland spielt eine einzigartige Rolle in der euro-atlantischen Sicherheit. Im Rahmen der NATO-Rußland-Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit haben sich die NATO und Rußland verpflichtet, ihre Beziehungen auf der Grundlage gemeinsamen Interesses, der Gegenseitigkeit und der Transparenz auszubauen, um einen dauerhaften und alle einschließenden Frieden im euro-atlantischen Raum zu erreichen, gestützt auf die Prinzipien der Demokratie und der kooperativen Sicherheit. Die NATO und Rußland haben vereinbart, ihr gemeinsames Bekenntnis zum Aufbau eines stabilen, friedlichen und ungeteilten Europas mit Leben zu erfüllen. Eine starke, stabile und dauerhafte Partnerschaft zwischen der NATO und Rußland ist von wesentlicher Bedeutung für die Schaffung anhaltender Stabilität im euro-atlantischen Raum."652

     In ihrem auf dem Washingtoner Gipfel vom April 1999 verabschiedeten Kommuniqué erklärten die Staats- und Regierungschefs der NATO, daß die Allianz der Partnerschaft mit Rußland nach der Grundakte zwischen der NATO und Rußland fest verpflichtet bleibe. Die NATO und Rußland teilten ein gemeinsames Ziel, nämlich die Festigung von Sicherheit und Stabilität im euroatlantischen Raum. Enge Beziehungen zwischen der NATO und Rußland seien von großer Wichtigkeit für Stabilität und Sicherheit im euroatlantischen Raum.653

     211. Am 24. Oktober 1999 trat für die Bundesrepublik Deutschland das Übereinkommen vom 19. Juni 1995 zwischen den Vertragsstaaten des Nordatlantikvertrages und den anderen an der Partnerschaft für den Frieden teilnehmenden Staaten über die Rechtsstellung ihrer Truppen sowie das Zusatzprotokoll hierzu in Kraft.654 Der Deutsche Bundestag hatte dem Übereinkommen durch Gesetz vom 9. Juli 1998 zugestimmt.

     212. Am 24. April 1999 kamen die Staats- und Regierungschefs der 19 Mitgliedstaaten der NATO und die Ukraine zu ihrem ersten Gipfeltreffen zusammen, um die Umsetzung der im Juli 1997 in Madrid unterzeichneten Charta über eine ausgeprägte Partnerschaft sowie ihre Rolle im Rahmen der euroatlantischen Sicherheit zu überprüfen. In ihrer Erklärung anläßlich des Gipeltreffens bekräftigten die Staats- und Regierungschefs des Bündnisses ihre Unterstützung der Souveränität und Unabhängigkeit, territorialen Integrität, demokratischen Entwicklung, wirtschaftlichen Prosperität der Ukraine sowie des Grundsatzes der Unverletzlichkeit von Grenzen als Schlüsselfaktoren für Stabilität und Sicherheit in Mittel- und Osteuropa und auf dem gesamten Kontinent. In diesem Zusammenhang unterstrichen sie die historische Bedeutung der ukrainischen Entscheidung, freiwillig Nuklearwaffen von ihrem Territorium zu entfernen. Der Präsident der Ukraine bekundete die Entschlossenheit seines Landes, seine Anstrengungen fortzuführen, um demokratisch-politische, wirtschaftliche und verteidigungspolitische Reformen umzusetzen und sein Ziel zur Integration in europäische und transatlantische Strukturen weiter zu verfolgen. Er bestätigte, daß der kürzlich erfolgte NATO-Beitritt Polens und Ungarns, zweier Nachbarn der Ukraine, zusammen mit der Tschechischen Republik einen bedeutenden Beitrag zur Stabilität in Europa darstelle. Die Bündnispartner der NATO erneuerten ihre Überzeugung, daß auf die Ukraine in Zukunft eine zunehmend wichtige Rolle bei der Festigung von Sicherheit in Mittel- und Osteuropa und auf dem gesamten Kontinent zukommen sollte. Ferner begrüßten sie die Fortschritte zur Umsetzung der ausgeprägten Partnerschaft seit Unterzeichnung der Charta in Madrid und erwarteten ihre volle Entfaltung. Mit Zufriedenheit sahen sie die Entwicklung von Konsultationen und Zusammenarbeit zwischen der NATO und der Ukraine über ein breit gefächertes Feld, auf Gipfel-, Minister- und Botschafterebene sowie in den zuständigen Ausschüssen und Regierungsgremien, wie der Interministeriellen Kommission der Ukraine für Beziehungen zur NATO.655

     213. Frühjahrs- und Jahrestagung der Parlamentarischen Versammlung der NATO

     Vom 27. bis 31. Mai 1999 fand in Warschau die Frühjahrstagung der Parlamentarischen Versammlung der NATO statt. Der Deutsche Bundestag entsandte eine elfköpfige Delegation, der Bundesrat war mit insgesamt fünf Delegierten vertreten. Die Sitzungen der Ausschüsse fanden am 28. und 29. Mai 1999 statt, das Plenum tagte am 31. Mai 1999.

     Im Politischen Ausschuß äußerte sich Bundestagsabgeordneter Lamers zur Politik der NATO im Kosovo-Konflikt656. Lamers erklärte, das Handeln der NATO sei richtig, weil die Allianz eine Wertegemeinschaft sei. Die NATO führe keinen Krieg gegen Serbien, sondern gegen Milosevic.657

     Ausführlich äußerte sich der Abgeordnete Meckel zur Rolle der NATO: Man befinde sich in einer historisch entscheidenden Stunde. Soeben habe man das 50. Jubiläum der NATO gefeiert; ebenfalls sei es der zehnte Jahrestag, an dem Polen seine Freiheit feiern könne. Schon 1991 habe es die erste veröffentlichte neue NATO-Strategie gegeben. Wesentliche Meilensteine seien die Kooperation mit Rußland und die Integration der Mittel- und Osteuropäischen Staaten. Es gehe darum, eine Region der Sicherheit und Stabilität zu schaffen. Dafür bedürfe es insbesondere aber der Geschlossenheit. Die kollektive Verteidigung des Bündnisgebietes bilde nach wie vor das Fundament der NATO. Die wirklichen Bedrohungen der Sicherheit der Mitglieder gingen jedoch von politischen Instabilitäten und Regionalkonflikten an der Peripherie des Bündnisgebietes aus. Dabei stelle die Aufnahme Polens, der Tschechischen Republik und Ungarns in die NATO einen großen Fortschritt für die Verwirklichung eines geeinten und freien Europas dar. Der Washingtoner Gipfel habe zugleich bekräftigt, daß die Tür der Allianz weiter offen stehe. Das Bündnis brauche jedoch in absehbarer Zeit einen konkreten Fahrplan hierfür. Der Amsterdamer Vertrag und die Washingtoner Beschlüsse seien außerdem Meilensteine auf dem Weg zu einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsintensität. Europa müsse zu autonomem Handeln in der Lage sein. Hierzu sei es von Bedeutung, den gemeinsamen politischen Willen zu entwickeln. Schließlich sei auch der 1997 mit der Mittelmeerkooperationsgruppe geführte Dialog wichtig, weil aus dieser Region an der Peripherie des Gebietes die stärksten potentiellen Bedrohungen herrührten.658

     Im Ausschuß für Verteidigung und Sicherheit äußerte der Bundestagsabgeordnete Zumkley im Hinblick auf den Einsatz der NATO im Kosovo, daß sich das Bündnis ganz bewußt für Luftschläge und gegen den Einsatz von Bodentruppen entschieden habe. Die guten Gründe, die seinerzeit für diese Entscheidung gesprochen hätten, würden auch weiterhin gelten. Im Deutschen Bundestag vertrete die ganz überwiegende Mehrheit der Abgeordneten nach wie vor die Auffassung, der Einsatz von Bodentruppen sei nur zur Implementierung eines entsprechenden Friedensabkommens sinnvoll.659

     Der Abgeordnete Meckel begrüßte die Reformen, die in Rumänien seit dem Sturz des früheren Präsidenten Ceaucescu durchgeführt worden seien. Er unterstrich, daß man von einer weiteren Öffnung der NATO und der Europäischen Gemeinschaft nicht nur abstrakt sprechen dürfe, sondern auch einen konkreten Fahrplan vorlegen müsse. Er trete dafür ein, Rumänien eine klare Perspektive für den gewünschten Beitritt zur NATO zu geben.660

     Vom 11. bis 15. November 1999 fand in Amsterdam die 45. Jahrestagung der Parlamentarischen Versammlung der NATO statt. Der Deutsche Bundestag war mit 15 Delegierten vertreten, der Bundesrat entsandte eine sechsköpfige Delegation. Die Sitzungen der Ausschüsse fanden vom 12. bis 14. November statt, die Plenarsitzung am 15. November. Die Tagung war insbesondere von Fragen geprägt, deren Brisanz anhand der Kosovo-Krise besonders deutlich geworden war. Hierzu gehörte die Frage, unter welchen Umständen aus humanitären Gründen Interventionen zulässig sein könnten, die Frage der Anwendung und Fortentwicklung des humanitären Völkerrechts, und die Notwendigkeit der Herstellung einer europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität. Bei den Beratungen wurden die teilweise recht konträren Auffassungen zur Frage des Interventionsrechtes deutlich. Verschärft wurden diese Gegensätze - insbesondere zwischen Rußland und der NATO - aufgrund der Kritik der NATO-Parlamentarier an der Kriegsführung Rußlands in Tschetschenien. Aber auch unter den Vertretern der NATO-Mitgliedstaaten traten deutliche Auffassungsunterschiede zutage, insbesondere zu der Zulässigkeit und den möglichen Gründen für humanitäre Interventionen und zu der Frage der Notwendigkeit, der Nützlichkeit und des Umfangs der Herstellung einer eigenen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.661

     Generalberichterstatter des Politischen Ausschusses war der deutsche Abgeordnete Meckel. In seinem Bericht legte dieser dar, daß die Verteidigung nach wie vor die Kernaufgabe der NATO sei, daß aber zunehmend Konfliktprävention und Krisenbewältigung in den Vordergrund getreten seien. Dabei sei die in Art. 7 des NATO-Vertrages niedergelegte Priorität des Sicherheitsrates genauso von hervorzuhebender Bedeutung wie die ausdrückliche Erklärung, daß die NATO nicht die Absicht habe, als globaler Akteur aufzutreten. Ein weiterer Eckpfeiler sei die Sicherheitspartnerschaft mit Rußland. Ein bedeutender Punkt sei auch das Verhältnis zur Ukraine. Hierbei seien nach wie vor Defizite festzustellen. Hinsichtlich der Frage der zukünftigen NATO-Erweiterung forderte Meckel einen Stufenplan, wie ihn die Europäische Union für den Erweiterungsprozeß vorgesehen habe. Auf seiten der Beitrittskandidaten seien ausdrücklich Fortschritte hervorzuheben.662

     Im Ausschuß für Verteidigung und Sicherheit ging der Bundestagsabgeordnete Lamers auf die Entwicklung der nationalen Verteidigungshaushalte in Europa ein. Wenn Europa im Sicherheits- und Verteidigungsbereich ein stärkeres Profil innerhalb der NATO entwickeln wolle, müsse dies auch finanzierbar sein. Im übrigen halte er es auch bei einer zukünftigen stärkeren Betonung des europäischen Pfeilers in der NATO für möglich, daß einige EU-Länder weiterhin am Prinzip der Wehrpflicht festhielten.663

     Im Ausschuß für Zivile Angelegenheiten gab der Bundestagsabgeordnete Kröning in seinem Sonderbericht "Kosovo und Humanitäres Völkerrecht" einen Überblick über das humanitäre Völkerrecht und legte diesen Maßstab an die Intervention der NATO im Kosovo an. Der Bericht hebt die Notwendigkeit und Rechtfertigung der NATO-Intervention hervor und schildert zugleich die moralische Verpflichtung, die eine solche Intervention im Namen der Menschenrechte mit sich bringe. Da die NATO aus Demokratien bestehe, deren Grundlage die Herrschaft des Rechts sei, müsse sie das humanitäre Völkerrecht in besonderer Weise achten und bewahren. Mit der Erfahrung des Kosovo-Konfliktes im Rücken müsse die NATO sich fragen, ob sie alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen ergriffen habe, um Verluste im zivilen Bereich zu vermeiden. Der Sonderberichterstatter hob neben einigen Verfehlungen, wie Zielfehlern und der Bombardierung der chinesischen Botschaft, die moralischen Argumente zur Verteidigung der Kriegsführung des Bündnisses hervor. Der Einsatz bestimmter Waffenarten und die Strategie des alleinigen Rückgriffs auf Luftstreitkräfte und die damit verbundene "Nullopfer"-Doktrin werfe jedoch Fragen und Probleme auf. In Zukunft solle die Allianz eine Vorbildfunktion bei der Umsetzung des humanitären Völkerrechts einnehmen und daher ihre Strategie, die ausschließlich auf Luftangriffen beruhe, überdenken. Darüber hinaus müsse man auf Angriffe auf zivile Ziele und die Verwendung bestimmter Waffengattungen völlig verzichten. Alle Mitglieder der NATO sollten die Bestimmungen des humanitären Völkerrechts fördern und für seine Ausbreitung sorgen. Dazu gehöre die Bestrafung von Kriegsverbrechern nicht nur durch internationale Tribunale, sondern auch durch nationale Rechtsprechung. Des weiteren sollten alle NATO-Staaten, die dies bisher noch nicht getan hätten, die Zusatzprotokolle der Genfer Konvention sofort ratifizieren. Abschließend forderte der Bericht die Stärkung der Internationalen Ermittlungskommission, um die Durchsetzung und Respektierung des humanitären Völkerrechts zu fordern.664

     214. Deutsche WEU-Präsidentschaft

     Am 1. Januar 1999 übernahm die Bundesrepublik Deutschland gleichzeitig mit der EU-Ratspräsidentschaft die WEU-Präsidentschaft. In ihrem Bericht über die Tätigkeit der WEU für die Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 1999 legte die Bundesregierung diesbezüglich dar, daß die Arbeit der deutschen WEU-Präsidentschaft geprägt gewesen sei durch die von Großbritannien und Frankreich in St. Malo im November 1998 angeregten erneuten Diskussion über die Zukunft der europäischen Sicherheit und Verteidigung. Im Rahmen dieser Diskussion, die parallel auch in der EU und der NATO geführt worden sei, sei in der WEU ein informeller Reflexionsprozeß über die künftige europäische Sicherheit und Verteidigung begonnen und die erste Phase einer Bestandsaufnahme der für Operationen der Europäer zur Verfügung stehenden Mittel und Fähigkeiten durchgeführt worden. Der deutschen Doppelpräsidentschaft sei es gelungen, die im Protokoll zu Art. 17 des Vertrags von Amsterdam vorgesehene Erarbeitung von Regelungen für eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen der EU und der WEU rechtzeitig bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam fertigzustellen. Im Mai 1999 sei mit der Minenräummission in Kroatien die erste von der EU mandatierte WEU-Mission begonnen worden. Die Durchführung der Mission werde vollständig von der EU finanziert. Der WEU-Beobachterstaat Schweden habe die Mission geleitet, die dem kroatischen Minenräumzentrum beratend und ausbildend zur Seite gestanden habe. Im März habe die EU die WEU beauftragt, ihre seit 1997 laufende Ausbildungs- und Beratungsmission zugunsten der albanischen Polizei aufzustocken und geographisch auszuweiten. Im gleichen Monat seien die drei neuen NATO-Mitglieder Ungarn, Polen und die Tschechische Republik assoziierte Mitglieder der WEU geworden. Auf dem Europäischen Rat in Köln sei schließlich die politische Entscheidung über die von der Bundesregierung schon seit mehreren Jahren angestrebte Verschmelzung der WEU mit der EU gefallen.665

     215. In seiner Einführungsrede anläßlich der gemeinsamen ersten Sitzung der Außen- und Verteidigungsminister der WEU zur europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zum Thema "Europe's Security and Defense in the Light of the Entry into Force of the Amsterdam Treaty and the Washington Summit" schlug Bundesverteidigungsminister Scharping am 10. Mai 1999 in Bremen hinsichtlich des Problems der Strukturen der Entscheidungsprozesse für europäische Aktionen vor:

     "Ich persönlich sehe eine Lösung für dieses Problem in der Integration der WEU in die EU und einer engen Zusammenarbeit zwischen EU und NATO. Hier sollten wir auf dem aufbauen, was wir in Washington für die Zusammenarbeit zwischen WEU und NATO bereits erreicht haben.
     Auf diese Weise können wir die politischen und militärischen Entscheidungsstrukturen der Europäer unter dem Dach der EU zusammenfassen und, wenn erforderlich, auf die vorhandenen militärischen Mittel und Fähigkeiten in der NATO zurückgreifen."666

     Die EU, so Scharping weiter, bräuchte einen Militärausschuß, in dem die Generalstabschefs und ihre Ständigen Vertreter ihren militärischen Rat eingeben könnten, ferner werde ein gemeinsamer Militärstab mit der zur Beschlußfassung notwendigen Planungskapazität und Expertise benötigt. In der WEU sei dies vorhanden. Es müsse nur überführt werden. Dadurch würde auch die künftig notwendige Zusammenarbeit zwischen der EU und der NATO vereinfacht.667

     216. Am 10. Mai 1999 faßte der Rat der Europäischen Union gemäß Art. 17 des Amsterdamer Vertrages einen Beschluß über die Regelungen für eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Westeuropäischen Union.668 In Art. 1 des Beschlusses wird der Wortlaut der Regelungen für eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und der Westeuropäischen Union gemäß dem Protokoll zu Art. 17 des Vertrags über die Europäische Union genehmigt. Der Beschluß ist gemäß Art. 2 am Tage seiner Annahme in Kraft getreten. Die Regelungen sehen folgendes vor:

     - Verbesserung der Koordinierung der Konsultation und der Beschlußfassung zwischen der EU und der WEU, insbesondere in Krisensituationen;

     - gemeinsame Sitzungen der zuständigen Gremien beider Organisationen; die weitestmögliche Harmonisierung der Abfolge der Vorsitze von WEU und EU sowie der Verwaltungsregelungen und -praktiken beider Organisationen;

     - eine enge Koordinierung der Tätigkeiten des Personals des Generalsekretariats der WEU und des Generalsekretariats des Rates der EU;

     - Regelungen, die es den zuständigen Gremien der EU einschließlich der Strategieplanungs- und Frühwarneinheit ermöglichen, auf den militärischen Stab und das Satellitenzentrum der WEU sowie deren Institut für Sicherheitsstudien zurückzugreifen;

     - eine etwaige Zusammenarbeit im Rüstungsbereich;

     - eine Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission sowie Geheimhaltungsregelungen.

     Mit Beschluß vom 10. Mai 1999 genehmigte der Rat der Europäischen Union ferner die praktischen Regelungen, nach denen alle Mitgliedstaaten, die sich an den Aufgaben nach Art. 17 des Amsterdamer Vertrages beteiligen, in vollem Umfang und gleichberechtigt an der Planung und der Beschlußfassung der WEU teilnehmen können.669 Der Beschluß ist ebenfalls am Tag seiner Annahme in Kraft getreten.




    633 Bull. Nr. 19 vom 23.4.1999, 193.

    634 Bull. Nr. 24 vom 3.5.1999, 222 f.

    635 Ibid., 223 f.

    636 Ibid., 224.

    637 Ibid., 225.

    638 Ibid.

    639 Ibid.

    640 Ibid., 221.

    641 Ibid.

    642 Ibid., 234.

    643 Bull. Nr. 6 vom 9.2.1999, 63.

    644 Bull. Nr. 8 vom 22.2.1999, 91.

    645 Bull. Nr. 18 vom 21.4.1999, 190.

    646 Ibid.

    647 Bull. Nr. 19 vom 23.4.1999, 194.

    648 Bull. Nr. 24 vom 3.5.1999, 234.

    649 Ibid., 234 f.

    650 Bull. Nr. 19 vom 23.4.1999, 194.

    651 Bull. Nr. 24 vom 3.5.1999, 226.

    652 Ibid.

    653 Ibid., 237.

    654 BGBl. 1999 II, 465. Vgl. hierzu Raible (Anm. 1), Ziff. 215.

    655 Bull. Nr. 24 vom 3.5.1999, 232 f.

    656 Siehe dazu noch unten Ziff. 234.

    657 BT-Drs. 14/2494, 3.

    658 Ibid., 4.

    659 Ibid., 8.

    660 Ibid., 9.

    661 BT-Drs. 14/3632, 1.

    662 Ibid., 2.

    663 Ibid., 6.

    664 Ibid., 13 f.

    665 BT-Drs. 14/1525, 1.

    666 Bull. Nr. 30 vom 26.5.1999, 336.

    667 Ibid., 337.

    668 ABl. EG L 153 vom 19.6.1999, 1.

    669 ABl. EG L 123 vom 13.5.1999, 14.