246. Am 1. Januar 1995 trat der Vertrag vom 24. Juni 1994 über den Beitritt zur Europäischen Union für die bisherigen EU-Mitgliedstaaten sowie Österreich, Finnland und Schweden in Kraft.591 Diese Staaten wurden damit Mitglieder der Europäischen Union und Vertragsparteien der die Union begründenden Verträge. Hingegen ratifizierte Norwegen den Vertrag aufgrund des negativen Ergebnisses der Volksabstimmung über den EU-Beitritt nicht. Demgemäß wurden vom Rat der Europäischen Union am 1. Januar 1995 die notwendigen Vertragsanpassungen beschlossen.592
247. Auf den Gipfeltreffen in Cannes und Madrid einigte sich der Europäische Rat über das weitere Vorgehen bei der Erweiterung der Union, die der Rat als "politische Notwendigkeit und zugleich eine historische Chance für Europa" bezeichnete.593 Danach sollen die Verhandlungen über die Beitritte Maltas und Zyperns zur Union auf der Grundlage der diesbezüglichen Vorschläge der Europäischen Kommission sechs Monate nach Abschluß der Regierungskonferenz 1996 und unter Berücksichtigung ihrer Ergebnisse beginnen. Gleichzeitig wurde die Europäische Kommission beauftragt, ihre Stellungnahmen zu den Beitrittsanträgen der mittel- und osteuropäischen Staaten so rechtzeitig nach dem Ende der Regierungskonferenz vorzulegen, daß der Europäische Rat entscheiden kann, mit welchen dieser Staaten neben Zypern und Malta Verhandlungen begonnen werden können. Angestrebtes Ziel ist es, daß die Anfangsphase der Verhandlungen mit den mittel- und osteuropäischen Staaten mit dem Verhandlungsbeginn mit Zypern und Malta zeitlich zusammenfällt.594
248. Mit Gesetz vom 23. Juni 1995 stimmte der Bundestag dem Beschluß des Rates vom 31. Oktober 1994 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften zu.595 Der Beschluß ersetzt den Eigenmittel-Beschluß des Rates vom 24. Juni 1988.596 In Umsetzung der auf dem Gipfeltreffen von Edinburgh im Dezember 1992 getroffenen Vereinbarungen erweitert der neue Beschluß die Finanzausstattung der Gemeinschaften und ändert die Lastenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten bei der Aufbringung der Eigenmittel. Der Beschluß sieht vor, daß die Gemeinschaften bis 1999 über einen maximalen Eigenmittelbetrag von 1,27 % des gesamten Bruttosozialprodukts der Mitgliedstaaten verfügen können (bisher 1,20%). Damit diese Obergrenze eingehalten wird, darf der Gesamtbetrag der in dem Zeitraum von 1995 bis 1999 den Gemeinschaften zur Verfügung gestellten Mittel in keinem Jahr einen bestimmten Prozentsatz des Gesamtbruttosozialprodukts der Mitgliedstaaten für das betreffende Jahr übersteigen (Art. 3). Die Einnahmen, die in den Haushalt der Gemeinschaften als Eigenmittel einzustellen sind, werden in Art. 2 näher definiert. Die Korrektur der Lastenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten zugunsten des Vereinigten Königreichs, wie sie bereits in dem Beschluß von 1988 vorgesehen war, wird durch den neuen Eigenmittel-Beschluß fortgeführt (Art. 4). Art. 1 schreibt vor, daß der Haushalt der Gemeinschaften vollständig aus Eigenmitteln finanziert wird.
249. Die Aktivitäten der Europäischen Union im Berichtszeitraum standen im Zeichen der Vorbereitungen für die Regierungskonferenz 1996. Aus Anlaß des Treffens der EU-Außenminister in Messina am 2./3. Juni 1995 nahm die Reflexionsgruppe zur Vorbereitung der Regierungskonferenz ihre Arbeit auf. Auf seinem Treffen am 15./16. Dezember 1995 in Madrid nahm der Europäische Rat den Bericht der Reflexionsgruppe zur Kenntnis und beschloß, den 29. März 1996 als Beginn der Regierungskonferenz zu bestimmen.597
Die deutschen Ziele für die Regierungskonferenz 1996 waren im Berichtsjahr Gegenstand zahlreicher Erklärungen der Bundesregierung.598 Darin setzte sie sich auch mit den verschiedenen Modellen für eine "abgestufte Integration" oder ein "opt-out" einzelner Mitgliedstaaten in bestimmten Integrationsbereichen auseinander:
"Die Überlegungen, die mit dem Stichwort 'Kerneuropa' oder anderen Begriffen beschrieben werden, kennzeichnen Modelle, wie bei einer steigenden Zahl von Mitgliedern in der Union weitere Integrationsschritte zügig verwirklicht werden können.
Diese Überlegungen gehen davon aus, daß manche Integrationsschritte zunächst nur von einzelnen Mitgliedstaaten verwirklicht werden können, bevor zu einem späteren Zeitpunkt die übrigen Mitgliedstaaten aufholen. Die Bundesregierung geht davon aus, daß es bei der Regierungskonferenz 1996 zu entscheidenden Fortschritten bei der weiteren Integration gemeinsam mit allen Mitgliedstaaten kommt. Oben erwähnte Modelle werden von ihr zur Zeit nicht erwogen. Im übrigen orientiert sich die Politik der Bundesregierung an der Festlegung in der Koalitionsvereinbarung, in der es heißt: 'Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union müssen in der gleichen Weise an der fortschreitenden europäischen Integration teilnehmen können, jedoch darf die Verweigerung einzelner Mitgliedstaaten Integrationsschritte nicht aufhalten.'"599 |
"Die Bundesregierung sieht die bisherige Praxis des Subsidiaritätsprinzips durch die Gemeinschaft insgesamt noch nicht als befriedigend an. Nach wie vor werden dem Rat Vorschläge vorgelegt, die nicht im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip stehen. Zudem vertreten die Europäische Kommission und manche Mitgliedstaaten z.T. eine andere Auslegung des Art. 3b EGV als die Bundesregierung. [...]
Die Konkretisierung und Verstärkung des Subsidiaritätsprinzips ist ein zentrales Anliegen der Bundesregierung für die Regierungskonferenz 1996. In welcher Weise dies am wirksamsten geschehen kann, bedarf sorgfältiger Prüfung und ist derzeit noch nicht absehbar."600 |
"Die Übertragung von weiteren Kompetenzen auf die Europäische Union steht 1996 nicht auf der Tagesordnung. Vielmehr geht es um eine klarere Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union und ihrer Mitgliedstaaten. Hier ist vor allem Klarheit in der Rechtsetzung gefordert."602 |
"Die Überprüfung der europäischen Institutionen und Entscheidungsprozesse wird von fast allen Partnern gefordert, ist aber erfahrungsgemäß ganz besonders schwierig. Wir werden das mit der notwendigen Behutsamkeit angehen und dabei natürlich die Interessen der kleineren Mitgliedstaaten berücksichtigen müssen. Wichtig ist, daß die Regelungen so ausfallen, daß eine neue Erweiterung keinen Verlust an Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit mit sich bringt."603 |
"Die Bundesregierung tritt dafür ein, daß der Rat verstärkt mit qualifizierter Mehrheit entscheidet. Welche Handlungsfelder im einzelnen sich hierfür eignen, bedarf eingehender Prüfung. [...]
Einstimmigkeit muß jedoch u.a. in Fragen von vertragsändernder Bedeutung sowie bei hochsensiblen Sachbereichen beibehalten werden, insbesondere bei Finanzen, Steuern, sozialer Sicherheit, Industriepolitik sowie bei Artikel 235 EGV."604 |
"In der europapolitischen Debatte wird zur Zeit erwogen, bei der Abstimmung im Rat zu einem Verfahren der doppelten Mehrheit überzugehen. Beschlüsse des Rates sollen an eine Mehrheit der gewichteten Stimmen und an eine ausreichende Mehrheit der von den zustimmenden Staaten repräsentierten Bevölkerung gebunden sein. Die Bundesregierung hält es im Interesse einer Stärkung der demokratischen Legitimität für notwendig sicherzustellen, daß auch künftig in einer sich erweiternden Union hinter den Beschlüssen des Rates immer eine ausreichende Bevölkerungsmehrheit steht."605 |
"Bürgernähe heißt auch Transparenz. Wenn die europäischen Verfahren so kompliziert geworden sind, hängt dies mit dem legitimen Wunsch nach einer Vielzahl von Kontrollstufen zusammen; diesem Interesse muß Rechnung getragen werden. Es widerspricht dem aber nicht, die Verfahren im Europäischen Parlament zu vereinfachen. Neben dem Haushaltsverfahren sollten noch drei Verfahren für die Beteiligung des Europäischen Parlaments zur Anwendung kommen: das der Zustimmung, das der Mitentscheidung und das der Anhörung."607 |
"Die Bundesregierung wird sich für eine Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) insbesondere für Fragen der Vertragsauslegung und bei der Zusammenarbeit in den Bereichen Inneres und Justiz einsetzen. Der EuGH sollte im Bereich Justiz und Inneres umfassend zuständig sein, d.h. insbesondere für Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten, zwischen den Mitgliedstaaten und der Kommission sowie für Vorabentscheidungsverfahren auf Vorlage der nationalen Gerichte. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) ist dagegen in erster Linie eine Frage der politischen Verantwortung und einer richterlichen Kontrolle nur in sehr begrenztem Umfang zugänglich."608 |
250. Zur Zusammenarbeit zwischen Europäischer Union und Europarat führte die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage aus:
"Der EG-Vertrag sieht ausdrücklich vor, daß die Gemeinschaft jede zweckdienliche Zusammenarbeit mit dem Europarat herbeiführt. Die Bundesregierung ist der Auffassung, daß in Erfüllung dieses Auftrags eine noch engere Abstimmung zwischen den beiden Organisationen erforderlich ist und unterstützt werden muß. Sie begrüßt daher die Erklärungen und Beschlüsse, mit denen die Organe der beiden Institutionen die Grundlagen für eine engere Kooperation geschaffen haben."609 |
"Nach dem Vertrag von Maastricht achtet die Europäische Union die Grundrechte, wie sie in der Konvention des Europarates zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind. Damit ist ein umfassender Schutz der Menschenrechte gegenüber den Organen der Europäischen Union gewährleistet. Die Frage eines eigenen Grundrechtekataloges bleibt jedoch ein Thema für die Fortentwicklung der Union".610 |
"Die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union richten sich nach den Bestimmungen des Vertrages über die Europäische Union. Danach können europäische Staaten, die sich zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten bekennen, Mitglieder der Europäischen Union werden. Auch die Satzung des Europarates und die Wiener Gipfelerklärung setzen die Erfüllung dieser Kriterien für einen Beitritt zum Europarat voraus. Insofern läßt sich sagen, daß die Europaratsfähigkeit gewissermaßen Voraussetzung der Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist, wenngleich formal eine solche Vorbedingung nicht besteht."611 |
251. Der Europäische Rat verständigte sich auf seinem Treffen am 15. und 16. Dezember 1995 in Madrid darauf, daß der Name für die europäische Währung ab Beginn der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion Euro lauten wird. Dieser Beschluß stellt nach dem Willen der Mitgliedstaaten die einvernehmliche endgültige Auslegung der einschlägigen Vertragsbestimmungen dar.612
Der Europäische Rat einigte sich ferner auf das Übergangsszenario für die 3. Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion.613 Danach beginnt die 3. Stufe am 1. Januar 1999 mit der unwiderruflichen Festsetzung der Kurse für die Umrechnung der Währungen der teilnehmenden Staaten in ihrem Verhältnis untereinander und zum Euro. Ab diesem Zeitpunkt wird in der Geld- und Wechselkurspolitik der Euro zugrunde gelegt, wird die Verwendung des Euro auf den Devisenmärkten gefördert und werden die teilnehmenden Mitgliedstaaten neue handelbare Schuldtitel der öffentlichen Hand in Euro auflegen. Am 1. Januar 1999 soll ferner eine Verordnung des Rates in Kraft treten, die den rechtlichen Rahmen für die Verwendung des Euro ab diesem Zeitpunkt bietet, zu dem er zu einer eigenständigen Währung wird und der amtliche ECU-Korb abgeschafft wird. In dieser Verordnung wird für die Zeit des Fortbestehens unterschiedlicher Währungseinheiten der rechtlich verbindliche Gegenwert des Euro in den Landeswährungen festgelegt. Spätestens am 1. Januar 2002 sollen dann die Euro-Banknoten und -Münzen neben den nationalen Banknoten und Münzen in Umlauf gebracht werden. Sechs Monate nach diesem Zeitpunkt ist die vollständige Ersetzung der Landeswährungen in allen teilnehmenden Staaten vorgesehen, womit die Einführung der einheitlichen Währung vollendet wäre.
Die Bundesregierung hob mit Blick auf die Herstellung der Wirtschafts- und Währungsunion die Notwendigkeit einer strikten Einhaltung der im Maastrichter Vertrag enthaltenen Konvergenzkriterien hervor. Nur in diesem Falle ließen sich die von der einheitlichen Währung erhofften Vorteile (sichere Planungsgrundlagen, verminderte Transaktionskosten) auch tatsächlich realisieren:
"Diese Vorteile der Währungsunion entstehen nur bei einer stabilen einheitlichen Währung. Dies setzt eine dauerhafte Konvergenz der ökonomischen Grunddaten und eine strikte Erfüllung der im Vertrag von Maastricht festgelegten Konvergenzkriterien durch alle Teilnehmerländer voraus. Dazu sind in zahlreichen Mitgliedstaaten noch erhebliche zusätzliche Anstrengungen, insbesondere im Bereich der öffentlichen Finanzen, erforderlich. Nur dauerhafte Stabilitätserfolge ermöglichen den Übergang in die Endstufe der Währungsunion. Die einheitliche Währung darf in ihrer Stabilität der DM nicht nachstehen."614 |
252. Die Bundesregierung nahm im Berichtszeitraum im Rahmen einer Kleinen Anfrage zu der Vereinbarkeit der unterirdischen französischen Atomtests auf dem Muroroa-Atoll mit den Vorschriften des Vertrages zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG-Vertrag) Stellung. Sie vertrat hierzu die Auffassung, daß die Atomversuche vom räumlichen und sachlichen Anwendungsbereich des EAG-Vertrages erfaßt seien. Der Anwendbarkeit von Bestimmungen aus Kapitel III des EAG-Vertrages über den Gesundheitsschutz stehe weder entgegen, daß es sich bei dem Muroroa-Atoll um ein außerhalb Europas gelegenes Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates handele, noch die Tatsache, daß die Tests militärische Versuche darstellten. Es obliege jedoch der Europäischen Kommission, über die Einhaltung der Verpflichtungen aus dem EAG-Vertrag zu wachen. Es sei daher vorrangig Aufgabe der Kommission zu prüfen, ob es sich bei den von der französischen Regierung angekündigten unterirdischen Versuchen um "besonders gefährliche Versuche" im Sinne des Art. 34 EAG-Vertrag handele. Die Bundesregierung habe mit den anderen EU-Mitgliedstaaten keine Gespräche über die Möglichkeit eines gemeinsamen Vorgehens nach den Bestimmungen des EAG-Vertrages geführt.617
253. Am 26. Juli 1995 wurde das EUROPOL-Übereinkommen durch die Ständigen Vertreter der EU-Mitgliedstaaten in Brüssel unterzeichnet.618 Das Übereinkommen sieht die Errichtung einer gemeinsamen Polizeibehörde der Mitgliedstaaten vor. Keine Einigung konnte jedoch darüber erzielt werden, ob bei Klagen von EU-Bürgern gegen Maßnahmen der Polizeibehörde den nationalen Gerichten die Möglichkeit eines Vorabentscheidungsersuchens an den Europäischen Gerichtshof eingeräumt wird. Diese Frage soll spätestens auf der Tagung des Europäischen Rates im Juni 1996 geregelt werden. Die Bundesregierung erklärte im Europaausschuß des Bundestages, im Hinblick auf die ungeklärte Frage der EuGH-Zuständigkeiten von der Einleitung eines Verfahrens zur Ratifizierung der Konvention zunächst absehen zu wollen.619
254. Zur Einführung des Kommunalwahlrechts für Unionsbürger in den Bundesländern s. oben VIII.1., Ziff. 65.