Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Logo Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

Sie befinden sich hier: Publikationen Archiv Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000

Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


Home | Inhalt | Zurück | Vor

Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


950. ASYLRECHT UND ASYLGRUNDRECHT

Nr.88/2

Ob die Flucht des politisch Verfolgten in einem objektiv sicheren Drittstaat ihr Ende gefunden hat und dieser deshalb in der Bundesrepublik Deutschland kein Asylrecht genießt, ist nach objektiven Maßstäben zu beurteilen. Hat der Aufenthalt in einem solchen Drittstaat länger als drei Monate gedauert, spricht eine Vermutung für die Beendigung der Flucht.

The question of whether a person persecuted on political grounds ended his or her flight in an objectively safe third state and thus enjoys no right of asylum in the Federal Republic of Germany must be answered according to objective criteria. There is a presumption that the flight ended in the third state if the person's residence there lasted longer than three months.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 21.6.1988 (9 C 12.88), BVerwGE 79, 347 (ZaöRV 50 [1990], 106)

Einleitung:

      Der Kläger, ein äthiopischer Staatsangehöriger, hatte sich vor seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland mehrere Wochen lang im Sudan aufgehalten. Seine Klage gegen die Ablehnung seines Asylantrags wies das Berufungsgericht unter Hinweis auf §2 AsylVfG ab, weil der Kläger vor seiner Einreise in die Bundesrepublik bereits in einem anderen Staat vor politischer Verfolgung sicher gewesen sei. Das Bundesverwaltungsgericht hob die Berufungsentscheidung auf und verwies die Sache zur Prüfung der Frage zurück, ob die Flucht des Klägers in jenem Staat bereits ihren Abschluß gefunden habe.

Entscheidungsauszüge:

      §2 AsylVfG findet ... unter den dort bezeichneten Voraussetzungen nur dann Anwendung, wenn die Flucht des politisch Verfolgten im objektiv sicheren Drittstaat ihr Ende gefunden hat und damit zwischen der Flucht aus dem Heimatstaat und der Einreise in die Bundesrepublik kein Zusammenhang mehr besteht. Solange dieser gegeben ist, genießt der politisch Verfolgte ungeachtet eines Zwischenaufenthalts in einem anderen, objektiv sicheren Land in der Bundesrepublik Asylrecht. Die gegenteilige Auffassung des Berufungsgerichts läuft im Ergebnis auf eine Unterscheidung zwischen solchen politisch Verfolgten hinaus, für die die Möglichkeit bestand, aus ihrem Heimatstaat auf direktem Wege, also unmittelbar durch Überschreitung der Grenze oder mit Hilfe des Flugzeugs, in die Bundesrepublik zu fliehen, und solchen, die ihre Flucht nur unter Berührung anderer Staaten bewerkstelligen konnten. Sie führt damit letztlich zu einer Differenzierung der politisch Verfolgten nach bestimmten Ländern. Art.16 Abs.2 Satz 2 GG enthält jedoch weder eine Unterscheidung der politisch Verfolgten nach Herkunftsländern noch differenziert er nach ihren Fluchtwegen. Vielmehr ist das Asylrecht uneingeschränkt allen politisch Verfolgten garantiert, die als Flüchtlinge, nämlich im Zustand der Flucht, in die Bundesrepublik Deutschland kommen [BVerwGE 78, 332]. Der Senat hält an dieser Auffassung fest, die er aus der Entstehungsgeschichte des Art.16 Abs.2 Satz 2 GG so, wie diese auch vom Bundesverfassungsgericht ... (BVerfGE74, 51, 64) gewürdigt worden ist, gewonnen hat. ...
      Unter welchen Voraussetzungen die Flucht des politisch Verfolgten in einem objektiv sicheren anderen Staat als beendet anzusehen ist und damit zwischen der Flucht vor politischer Verfolgung und der Einreise in die Bundesrepublik kein Zusammenhang mehr besteht, richtet sich allerdings nicht nach den subjektiven Vorstellungen des Flüchtlings, sondern nach objektiven Maßstäben. Das ergibt sich unmittelbar aus §2 AsylVfG n.F., der ... nicht mehr auf eine Schutzsuche im Drittstaat und damit nicht auf nach außen hervortretende subjektive Gesichtspunkte, sondern auf die dort objektiv gegebene Verfolgungssicherheit abhebt. Dieses Merkmal würde entgegen dem klaren Gesetzeswillen durch eine rein subjektive Bestimmung des Fluchtendes letztlich bedeutungslos. Der bloße Wille des Flüchtlings, gerade in der Bundesrepublik Schutz zu finden, beläßt ihn somit nicht im Zustand der Flucht. Es kommt vielmehr darauf an, ob bei objektiver Betrachtungsweise aufgrund der gesamten Umstände, insbesondere des tatsächlich gezeigten Verhaltens des politisch Verfolgten während seines Zwischenaufenthalts im Drittstaat, dem äußeren Erscheinungsbild nach noch von einer Flucht gesprochen werden kann. Das ist nicht mehr der Fall, wenn der Aufenthalt ... stationären Charakter angenommen hat.
      Für die Feststellung eines derart stationären Charakters des Aufenthalts eines Flüchtlings in einem Drittstaat kommt der Dauer des Aufenthalts eine entscheidende Bedeutung zu. Je länger der Aufenthalt im Drittstaat dauert, um so mehr geht das äußere Erscheinungsbild einer Flucht verloren, schwindet der Zusammenhang zwischen dem Verlassen des Heimatstaats und der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland dahin. Eine Flucht kann daher allein schon aufgrund bloßen Zeitablaufs in einem objektiv sicheren Drittstaat ihr Ende finden. Welche Zeitspanne in dieser Hinsicht maßgebend ist, läßt sich konkret weder Art.16 Abs.2 Satz 2 GG noch sonstigen Grundsätzen von Verfassungsrang entnehmen. Der Gesetzgeber ist daher nicht gehindert, in dieser Hinsicht eine Regelung zu treffen. Sie ist jedenfalls mittelbar auch bereits erfolgt. ... [Der] Gesetzgeber [ist] bei der Festlegung der zur Sicherheitsvermutung führenden dreimonatigen Aufenthaltsdauer in §2 Abs.2 AsylVfG davon ausgegangen, daß eine Frist von drei Monaten für eine Orientierung des politisch Verfolgten nach dem Verlassen des Machtbereichs seines Heimatstaats grundsätzlich ausreichend ist. Dem entnimmt der Senat, daß ein längerer als dreimonatiger Aufenthalt in einem Drittstaat nicht nur die Vermutungsbasis für eine erreichte Sicherheit vor der Verfolgungsgefahr im Heimatstaat darstellt, sondern daß bei einem Aufenthalt des politisch Verfolgten im Drittstaat von mehr als drei Monaten im Wege der Vermutung grundsätzlich auch davon auszugehen ist, daß die Flucht des politisch Verfolgten - allein durch Zeitablauf - ihr Ende gefunden hat.
      Hieraus ist umgekehrt zwar nicht zu folgern, daß bei Aufenthalten von kürzerer als dreimonatiger Dauer eine Vermutung für das Fehlen einer Fluchtbeendigung spricht, wohl aber zu schließen, daß in diesen Fällen zur Beurteilung der Frage, ob eine Flucht beendet ist, der bloße Zeitablauf für sich allein nicht ausschlaggebend ist, bei Aufenthalten von weniger als drei Monaten vielmehr eine Beendigung der Flucht in gleichem Maße möglich ist wie das Gegenteil. Ob das eine oder andere anzunehmen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Es kommt in erster Linie auf das objektive äußere Verhalten an, das der politisch Verfolgte während seines Aufenthalts im Drittstaat an den Tag gelegt hat. Der politisch Verfolgte zum Beispiel, der bei den zuständigen Stellen des Drittstaates um Aufnahme bittet oder sich in einem Flüchtlingslager meldet, beendet seine Flucht, und zwar auch dann, wenn er anschließend nur kurze Zeit im Lande bleibt. Weiterhin führen regelmäßig alle Verhaltensweisen zu einer Fluchtbeendigung, die eine Eingliederung in die im Drittstaat bestehenden Verhältnisse zum Gegenstand haben. Der politisch Verfolgte, der beispielsweise eine auf Dauer angelegte Arbeit aufnimmt, einen Laden eröffnet oder eine nach Maßgabe der Verhältnisse im Drittstaat zum dauernden Verbleiben geeignete Wohnung anmietet, hat seine Flucht in aller Regel auch dann beendet, wenn dies alles nach seinen Vorstellungen nur vorläufigen Charakter haben sollte. Weiterhin kann je nach den Umständen des Falles die Annahme einer Fluchtbeendigung dann naheliegen, wenn sich der politisch Verfolgte, dessen Weiterreise sonst nichts entgegensteht, in einem Drittstaat mit gut ausgebautem und funktionsfähigem Verkehrssystem erheblich länger aufhält, als dies unter Berücksichtigung seiner Fremdheit im Lande zur Information über bestehende Verkehrsverbindungen notwendig ist. Das Zeitmoment kann damit auch bei Aufenthalten im Drittstaat von weniger als drei Monaten von Bedeutung sein.
      Andererseits kann auch bei der anzulegenden objektiven Betrachtungsweise eine Flucht nicht nach den Maßstäben eines normalen Reisenden beurteilt werden ... Es ist deshalb zu eng, wenn die Beklagte ... generell meint, ausschließlich Aufenthalte auf Bahnhof, Flugplatz, Busstation oder Herberge am Straßenrand zur Übernachtung oder zum Warten auf die nächste Fahrgelegenheit könnten als unschädliche Zwischenaufenthalte angesehen werden; alle anderen nicht mit Fortbewegungsmitteln zusammenhängende Aufenthalte schlössen die Anwendung des §2 AsylVfG dagegen nicht aus. Eine solche Beschränkung ... würde der Asylzusage des Art.16 Abs.2 Satz 2 GG ... widersprechen. Vielmehr können außer den mit den Verkehrsmitteln zusammenhängenden Fortbewegungshindernissen (z.B. ein Eisenbahnerstreik) auch andere objektive Hindernisse, die einer alsbaldigen Fortsetzung der Flucht entgegenstehen, die Anwendung des §2 AsylVfG hindern. Der politisch Verfolgte, der einen zwangsläufig entstehenden Aufenthalt im Drittstaat lediglich dazu benutzt, diese Hindernisse zu beseitigen, beendet seine Flucht regelmäßig nicht, sondern setzt sie nach dem Wegfall der Hindernisse fort. Zu diesen Hindernissen gehören vor allem auch das Fehlen der erforderlichen Ausweis- und Reisedokumente und die Schwierigkeiten bei der Beschaffung der für eine Weiterreise erforderlichen Geldmittel.