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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


212. EINZELNE REGELN

Nr.88/1 Es gibt keine Regel des allgemeinen Völkerrechts, derzufolge ein Zeuge, der im Ausland zur Vernehmung in einem Strafverfahren vor ein inländisches Gericht geladen wird, bei vertragslosem Rechtshilfeverkehr auch ohne Zusicherung oder sonstige Gewährleistung ein Recht auf freies Geleit hat.
There is no general rule of international law according to which a witness who is summoned from abroad for an interrogation in criminal proceedings before a national court in a case of legal assistance not covered by a treaty has a right to safe conduct in the absence of an undertaking or other guarantee.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 24.2.1988 (3 StR 476/87), BGHSt 35, 216 (ZaöRV 50 [1990], 76)

Einleitung:

      Der Angeklagte war u.a. wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu Freiheitsstrafe verurteilt worden. Der BGH hielt die Ablehnung des Hilfsbeweisantrags des Angeklagten auf Vernehmung eines Zeugen aus Bogota (Kolumbien) wegen Unerreichbarkeit des Zeugen für rechtmäßig, obwohl dieser nicht zuvor förmlich im Wege der Rechtshilfe zur Hauptverhandlung geladen worden war. Eine solche Ladung wäre aussichtslos gewesen, da der Zeuge erklärt hatte, nur bei Zusicherung freien Geleits vor dem Landgericht zu erscheinen, die Staatsanwaltschaft aber eine derartige Zusicherung verweigert hatte. Der BGH weist die Auffassung der Revision zurück, ein freies Geleit wäre auch ohne entsprechende Vereinbarung schon mit der Ladung des im Ausland lebenden Zeugen gewährleistet gewesen. Ein derartiges Recht auf freies Geleit für Auslandszeugen ergebe sich weder aus deutschem Recht noch aus einer allgemeinen Regel des Völkerrechts.

Entscheidungsauszüge:

      2. ... b) Das freie Geleit, das nach Auffassung der Revision ohne weiteres mit der förmlichen Ladung eines im Ausland lebenden Zeugen zur Vernehmung in einem inländischen Strafverfahren verbunden sein soll, läßt sich auch nicht einer allgemeinen Regel des Völkerrechts entnehmen, die nach Artikel 25 GG Bestandteil des Bundesrechts wäre und den deutschen Gesetzen vorginge (aA Engelhardt in KK 2. Aufl. § 295 Rdn. 12). Für den Senat bestehen keine Zweifel, daß es die von der Revision behauptete allgemeine Regel des Völkerrechts nicht gibt. Er ist auch nicht auf "ernstzunehmende" Zweifel (BVerfGE 23, 288 f., 319) in der Richtung gestoßen, daß er mit seiner Auffassung von der Meinung eines Verfassungsorgans, von den Entscheidungen hoher deutscher, ausländischer oder internationaler Gerichte oder von den Lehren anerkannter Autoren der Völkerrechtswissenschaft abweichen würde. Er ist deshalb nicht gehalten, gemäß Art.100 Abs.2 GG die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu dieser Frage einzuholen ...
      aa) Völkerrechtsregeln sind dann "allgemeine Regeln des Völkerrechts" im Sinne des Art.25 GG, wenn sie von der überwiegenden Mehrheit der Staaten - nicht notwendigerweise auch von der Bundesrepublik Deutschland - anerkannt werden. Für eine solche Anerkennung fehlt es, soweit es sich um das freie Geleit für Zeugen handelt, an ausreichenden Anhaltspunkten.
      bb) Allerdings ist nicht zu verkennen, daß es - gerade auch in neuerer Zeit - im in- und ausländischen Rechtshilferecht, in zweiseitigen völkerrechtlichen Vereinbarungen über die Rechtshilfe in Strafsachen und in mehrseitigen Abkommen auf diesem Gebiet Bestimmungen gibt, die sich als Ausdruck einer (jedenfalls begrenzten) Anerkennung des Rechts auf freies Geleit verstehen lassen. Hierzu kann man §62 Abs.1 Nr.3, §70 IRG, §53 Abs.1 des österreichischen Auslieferungs- und Rechtshilfegesetzes (ARHG) vom 4. Dezember 1979 (bei Grützner/Pötz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 2. Aufl. IV O 5 S.26) und Art.69 Abs.3 des schweizerischen Rechtshilfegesetzes (IRSG) vom 20. März 1981 (bei Grützner/Pötz aaO IV S 16 S.1) zählen, deren Zweck es ist, bei der Überstellung eines Zeugen vom In- ins Ausland oder bei seiner Ladung zu einer Vernehmung im Ausland zu gewährleisten, daß er im Ausland nicht wegen einer früheren Tat verfolgt wird.
      Freies Geleit für Zeugen gewähren Artikel 29 des deutsch-belgischen Vertrags über die Auslieferung und Rechtshilfe in Strafsachen vom 17. Januar 1958 (bei Grützner/Pötz aaO II B 10 S.15), Artikel 7 Abs.1 und 3 des deutsch-jugoslawischen Vertrags über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 1. Oktober 1971 (bei Grützner/Pötz aaO II J 10 S.35) und Artikel 41 Abs.1 des deutsch-portugiesischen Vertrags über die Auslieferung und die Rechtshilfe in Strafsachen vom 15. Juni 1964 (bei Grützner/Pötz aaO II P 16 S.5). Das gleiche gilt für Artikel 12 Abs.1 und 3 des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen (EuRhÜbk) vom 20. April 1959 (bei Grützner/Pötz aaO III 2 S.21), das am 1. August 1985 in insgesamt 18 Staaten in Kraft getreten war (Grützner/Pötz aaO III 2 S.2).
      cc) Diese Beispiele ergeben aber keine Grundlage für die Annahme, sie seien möglicherweise Ausdruck einer bereits allgemeinen Regel des Völkerrechts im oben umschriebenen Sinne, die von der überwiegenden Mehrheit der Staaten anerkannt werde.
      So gehen ersichtlich die Bundesregierung und die Landesregierungen davon aus, daß es in der Bundesrepublik Deutschland kein Recht auf freies Geleit für Zeugen gibt, das ohne weiteres mit ihrer Ladung im Ausland verbunden wäre. Demgemäß heißt es in Nr.116 Abs.4 der Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in Strafsachen (RiVASt) vom 18. September 1984, bestehe nach völkerrechtlichen Übereinkünften freies Geleit oder sei nach §295 StPO sicheres Geleit erteilt, so sei der Zustellungsadressat hierauf hinzuweisen. Dieses Verständnis der bezeichneten Verwaltungsvorschift steht im Einklang mit dem Inhalt eines Schreibens des Bundesministers der Justiz vom 13. März 1985 an den Hessischen Minister der Justiz (9352 E - 999/84), das den Rechtshilfeverkehr in Strafsachen mit Bolivien betrifft. In dem Schreiben wird zum Ausdruck gebracht: Im Verhältnis zu Bolivien finde das Europäische Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen keine Anwendung. Die Gewährung freien Geleits könne demzufolge nicht auf dieses Übereinkommen gestützt werden. Bei dem freien Geleit handele es sich nach Auffassung der Bundesregierung auch nicht um eine allgemeine Regel des Völkerrechts. Freies Geleit könne daher nur von dem Gericht gewährt werden, bei dem ein Strafverfahren gegen die als Zeuge zu ladende Person anhängig sei.
      Auch der deutsche sowie ausländische Gesetzgeber haben zum Ausdruck gebracht, daß sie freies Geleit für Zeugen nicht schon auf Grund allgemeinen Völkerrechts für gegeben halten. Sie sind deshalb bestrebt, es durch innerstaatliche Rechtsvorschriften über den Rechtshilfeverkehr in Strafsachen durchzusetzen, und zwar durch Rechtsvorschriften, die gerade beim Fehlen besonderer völkerrechtlicher Vereinbarungen eingreifen (vgl. §1 Abs.3 IRG, §1 österr. AHRG, Art.1 schweiz. IRSG). §62 Abs.1 Nr.3 und §70 IRG lassen die vorübergehende Überstellung eines Inhaftierten als Zeugen in das Ausland nur zu, wenn "gewährleistet" ist, daß er während der Zeit seiner Überstellung nicht bestraft, einer sonstigen Sanktion unterworfen oder durch Maßnahmen, die nicht auch in seiner Abwesenheit getroffen werden können, verfolgt werden wird und daß er im Fall seiner Freilassung den ersuchenden Staat verlassen darf. Hier geht der Gesetzgeber also ersichtlich davon aus, daß sich dies - nach allgemeinem Völkerrecht - nicht von selbst versteht. Eine besondere Art der Gewährleistung ist zwar nicht vorgeschrieben ...
      Ähnliche Vorschriften, welche gerade nicht von der Existenz eines allgemein geltenden völkerrechtlichen Rechts auf freies Geleit ausgehen, gibt es im österreichischen und im schweizerischen Recht. Nach §53 Abs.1 österr. ARHG darf einer im Inland befindlichen Person eine Aufforderung, vor einer ausländischen Behörde zu erscheinen, nur zugestellt werden, wenn "gewährleistet" ist, daß sie wegen einer vor ihrer Ausreise in Österreich begangenen Handlung nicht verfolgt, bestraft oder in ihrer persönlichen Freiheit beschränkt werden wird. In der Schweiz kann die Zustellung einer Vorladung an die Bedingung geknüpft werden, daß dem Empfänger für angemessene Zeit freies Geleit zugesichert und er an der freien Ausreise aus dem Hoheitsgebiet des ersuchenden Staats nicht gehindert wird. Auf Verlangen des Empfängers holt die zustellende Behörde eine entsprechende schriftliche Zusicherung des ersuchenden Staates ein, bevor sie den Zustellungsnachweis übermittelt (Art.69 Abs.3 IRSG). In Italien ist die Gewährung freien Geleits verboten, soweit nicht besondere Vorschriften eingreifen (Art.355 ital. StPO).
      In der Völkerrechtslehre ist der von der Revision behauptete allgemeine Völkerrechtsgrundsatz als solcher ersichtlich nicht anerkannt. Es gibt nur vereinzelte Stimmen, die im behaupteten gegenteiligen Sinne verstanden werden können. Sie sind aber zum Teil nicht eindeutig, zum Teil nicht näher belegt und finden im übrigen Schrifttum keine Stütze ...
      dd) Vor diesem Hintergrund begründet auch das von der Verteidigung vorgelegte Kurzgutachten des Professors Dr. Stein (Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg) vom 19.Januar 1988 im dargelegten Sinn keine ""ernstzunehmenden" Zweifel (BVerfGE 23, 288 f., 319) an der vom Senat vertretenen Rechtsauffassung zum freien Geleit. Prof. Dr. Stein selbst kommt nicht zu dem Ergebnis, daß es die von der Revision behauptete allgemeine Regel des Völkerrechts gebe. Er weist zwar insbesondere darauf hin, daß das freie Geleit außer in Art.12 EuRhÜbk in weiteren mehrseitigen oder bilateralen Rechtshilfeverträgen anerkannt sei, so in Art.35 des BENELUX-Abkommens über die Auslieferung und Rechtshilfe in Strafsachen vom 27. Juni 1962 (UNTS Bd. 616 S.79 ff.), in Art.19 der Rechtshilfekonvention der Commune Africaine et Malgache vom 12. September 1961 (abgedruckt bei L. Sohn, Basic Documents of African Regional Organizations Bd. 2 S.616) und in Rechtshilfeübereinkommen osteuropäischer Staaten (vgl. Schultze-Willebrand, Die Rechtshilfe in Strafsachen in und mit Osteuropa, Studien des Instituts für Ostrecht München 1982 S.206 f.). Er legt aber auch Gesichtspunkte dar, welche der Annahme des von der Revision behaupteten völkerrechtlichen Grundsatzes vor dem Hintergrund der Feststellungen und Erwägungen des Senats (s. oben 2 b cc) praktisch den Boden entziehen. So führt er unter anderem aus: Eine signifikante Staatenpraxis, derzufolge ohne entsprechende vertragliche Vereinbarung aus dem Ausland vorgeladenen Zeugen freies Geleit ohne ausdrückliche Zusicherung gewährt worden sei, sei ohne intensivere Nachforschungen nicht nachweisbar, ihm also nicht bekannt. Das Vorhandensein zahlreicher Verträge mit gleichlautenden Regeln sei allein noch kein Nachweis für die Existenz auch eines entsprechenden Gewohnheitsrechtssatzes. Gerade bilaterale Verträge könnten Ausdruck der Haltung sein, eben nur vertraglich gebunden sein zu wollen. Das freie Geleit habe auf dem amerikanischen Kontinent (in Nord- und Südamerika) keine vergleichbare vertragsrechtliche Tradition (wie in Europa), weil Zeugen nicht aus dem Ausland vorgeladen, sondern auf Grund von "letters rogatory" vom beauftragten Richter im Ausland vernommen würden. Soweit Fälle vorgekommen seien, schließe die von ihm dargelegte Entwicklung (auf dem amerikanischen Kontinent) "natürlich nicht von vornherein die Ansicht aus, daß Grundlage freien Geleits doch zumeist die entsprechende Zusicherung" gewesen sei, sei es generell durch Vertrag, sei es im Einzelfall.