Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Logo Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

Sie befinden sich hier: Publikationen Archiv Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993

Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


Home | Inhalt | Zurück | Vor

Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1112. EINZELNORMEN DER EMRK

Art.6 Abs.2 EMRK

Nr.90/4

Nach §467 Abs.3 Satz 2 Nr.2 StPO kann das Gericht im Falle der Verfahrenseinstellung davon absehen, die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse aufzuerlegen, wenn dieser wegen einer Straftat nur deswegen nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht. Mit Rücksicht auf die Unschuldsvermutung setzt dies voraus, daß kein vernünftiger Zweifel daran besteht, daß der Angeklagte bei Fortsetzung des Verfahrens verurteilt worden wäre. Dieser Grad an Gewißheit wird regelmäßig nur erreicht, wenn der Angeklagte ein Geständnis abgelegt hat, das glaubhaft und in rechtsstaatlich unbedenklicher Weise zustande gekommen ist.

Pursuant to sec.467 (3) (2) (2) of the Code of Criminal Procedure, when dismissing criminal proceedings the court can refrain from obligating the government to reimburse the defendant's necessary expenses if the defendant could not be convicted for procedural reasons only. The presumption of innocence requires that there be no reasonable doubt that the defendant would have been convicted if the proceedings could have been continued. This degree of certainty will usually only be attained if the defendant has made a credible confession that has not been obtained in violation of due process principles.

Oberlandesgericht Köln, Beschluß vom 30.10.1990 (2 Ws 528/90), NJW 1991, 506 (ZaöRV 52 [1992], 418)

Einleitung:

      Der Beschwerdeführer war u.a. wegen Bestechlichkeit angeklagt worden. Er hatte im Ermittlungsverfahren zugegeben, Zahlungen in erheblicher Höhe erhalten zu haben. An der Hauptverhandlung hatte er trotz angeschlagener Gesundheit bis 11.5.1988 teilgenommen, dann wurde er dauernd verhandlungsunfähig. Die Strafkammer stellte schließlich das Verfahren gegen ihn nach §206a StPO ein und erlegte die Kosten des Verfahrens und die dem Beschwerdeführer nach dem 11.5.1988 erwachsenen notwendigen Auslagen der Staatskasse auf. Die zuvor entstandenen notwendigen Auslagen sollte dagegen der Beschwerdeführer zu sieben Achteln selbst tragen. Dieser Anteil war nach Ansicht der Strafkammer nicht unbillig, weil der Beschwerdeführer seine voraussichtliche Verhandlungsunfähigkeit verspätet mitgeteilt habe. Dagegen richtet sich die sofortige Beschwerde, der das Oberlandesgericht stattgab.

Entscheidungsauszüge:

      II. ... Die angefochtene Entscheidung über die notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers wird insoweit, als sie diese nicht der Staatskasse auferlegt hat, der gesetzlichen Regelung des §467 Abs.1 und Abs.3 StPO nicht gerecht. Nach §467 Abs.1 StPO fallen ... auch die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse zur Last, wenn das Verfahren eingestellt wird. Abweichungen von dieser Regel läßt das Gesetz nur für wenige Ausnahmefälle zu, von denen hier allein die in §467 Abs.3 Satz 2 Nr.2 StPO erfaßte Fallgestaltung in Betracht kommt. Danach kann das Gericht davon absehen, die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse aufzuerlegen, wenn dieser wegen einer Straftat nur deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht.
      Der damit eröffnete Weg zu einem fakultativen Ausschluß der Auslagenerstattung an den Angeklagten nach Ermessen des Gerichts setzt zunächst die Feststellung voraus, daß einer Verurteilung allein ein bestimmtes Verfahrenshindernis entgegensteht. Die Prüfung dieser tatbestandlichen Voraussetzung für eine gerichtliche Ermessensausübung ist recht unproblematisch, soweit ein in Rechtskraft erwachsener Schuldspruch vorliegt oder das Verfahren bis zur "Schuldspruchreife" gediehen ist, die regelmäßig erst mit dem letzten Wort des Angeklagten in der Hauptverhandlung eintritt (BVerfG, NJW 1990, 2741 [2742]; BVerfGE 74, 358 [372, 374] ...). Beides ist hier nicht der Fall. Ansonsten aber kann die nach §467 Abs.3 Satz 2 Nr.2 StPO erforderliche Feststellung die Unschuldsvermutung berühren, die als besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips (Art.20 Abs.3 GG) Verfassungsrang hat und darüber hinaus durch Art.6 Abs.2 EMRK Bestandteil des positiven Rechts der Bundesrepublik Deutschland im Range eines Bundesgesetzes ist (BVerfGE 19, 342 [347] ...).
      Dies beruht nicht bereits auf der Art der als Folge der Feststellung in Frage stehenden Rechtsfolge. Die Unschuldsvermutung gibt dem Angeklagten kein Recht auf Rückerstattung seiner Auslagen, wenn das Verfahren gegen ihn eingestellt worden ist. Sie schützt ihn vor Nachteilen, die Schuldspruch oder Strafe gleichkommen, denen aber kein prozeßordnungsgemäßes Verfahren zur Schuldfeststellung und Strafbemessung vorausgegangen ist ... Die Versagung des Auslagenersatzes ist keine Strafe und auch keine strafähnliche Sanktion, die einer Strafe gleichgeordnet werden kann; das der Strafe innewohnende sozialethische Unwerturteil ist mit der Versagung der Auslagenerstattung nicht verbunden (BVerfG, NJW 1990, 2741 [2742] m.w.Nachw.; BVerfG, NStZ 1988, 84; EGMR, NJW 1988, 3257 - Fall Engert ...).
      Die Unschuldsvermutung ist allerdings verletzt, wenn das Gericht dem Angeklagten in den Gründen eines Einstellungsbeschlusses oder der damit verbundenen Auslagenentscheidung strafrechtliche Schuld zuweist, ohne daß diese zuvor prozeßordnungsgemäß festgestellt wurde. Durch eine solche Feststellung wird, auch wenn sie nur in den Gründen erfolgt, der Angeklagte in der Sache als schuldig behandelt und damit in seinem Grundrecht verletzt ... Das gilt auch für Ausführungen, die im Kern einer Schuldfeststellung gleichkommen (EGMR, NJW 1988, 3257).
      Andererseits schließt die Unschuldsvermutung nicht aus, in einer das Strafverfahren ohne förmlichen Schuldspruch beendenden Entscheidung eine Verdachtslage zu beschreiben und daraus Schuldwahrscheinlichkeitserwägungen abzuleiten. Dieser, in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits früher vertretenen Auffassung ... hat sich nunmehr auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (NJW 1988, 3257 - Engert ...) in Abweichung von früheren Äußerungen (EuGRZ 1982, 297 ff. - Fall Adolf, EuGRZ 1983, 475 ff. - Fall Minelli ...) und abweichend von Entscheidungen der Europäischen Kommission für Menschenrechte (vgl. Nachweise bei OLG Zweibrücken, NStZ 1987, 425 [426]) angeschlossen. Dabei wird zu Recht davon ausgegangen, daß die Erörterung von Verdachtsgründen und eine darauf gestützte Prognose über den mutmaßlichen Ausgang des Verfahrens noch keine Schuldfeststellung beinhaltet ... Dies erfordert freilich, daß aus der Begründung stets deutlich hervorgeht, daß nur die Beschreibung und Bewertung einer Verdachtslage, nicht aber eine gerichtliche Schuldfeststellung vorgenommen wird. Dieser Unterschied muß in der Formulierung der Gründe hinreichend Ausdruck finden (BVerfG, NJW 1990, 2741 [2742]).
      Für die konventions- und verfassungskonforme Anwendung des §467 Abs.3 Satz 2 Nr.2 StPO folgt daraus, daß die Prüfung auf die Frage auszurichten ist, ob die vorliegenden Verdachtsgründe die Überzeugung vermitteln, daß ohne das Eintreten eines Verfahrenshindernisses eine Verurteilung erfolgt wäre. Dies wiederum setzt voraus, daß die Verurteilung nach Aktenlage sich als annähernd sicher darstellt; es darf kein vernünftiger Zweifel an der Verurteilung im Falle der Verfahrensfortsetzung bestehen ... Dieser Grad an Gewißheit wird wegen der Schwierigkeit, die Entwicklung der Verdachtslage im Verlauf des weiteren Verfahrens und insbesondere im Rahmen der Hauptverhandlung verläßlich abzuschätzen, regelmäßig nur dann erreicht sein, wenn der Beschuldigte ein Geständnis abgelegt hat, das in einer - unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten - unbedenklichen Weise zustande gekommen ist und nach allen verfügbaren Erkenntnissen keinen Anlaß zu Zweifeln hinsichtlich seiner Glaubhaftigkeit bietet ...
      Gerade so aber verhält es sich im vorliegenden Fall. Es besteht kein Grund zu Zweifeln daran, daß die Strafkammer im Falle der Durchführung des Hauptverfahrens dem Geständnis des früheren Angeklagten gefolgt wäre und es zur Grundlage ihrer Überzeugungsbildung gemacht hätte, zumal der Beschwerdeführer davon bis hin in das Beschwerdeverfahren nicht abgerückt ist und selbst die Erwägung der Strafkammer in dem angefochtenen Beschluß, daß "seine Schuld mit hoher Wahrscheinlichkeit festzustellen" sei, nicht beanstandet hat.
      Die danach begründete Feststellung eröffnet die Möglichkeit einer Ermessensausübung zur Frage der Auslagenerstattung zugunsten des Angeklagten, rechtfertigt aber noch nicht das Abweichen von der Regel des §467 Abs.1 StPO. Dazu bedarf es vielmehr weiterer Gründe, die es unbillig erscheinen lassen, die Staatskasse mit den Auslagen des Angeklagten zu belasten ... Umstände, die in der voraussichtlichen Verurteilung des Angeklagten und der ihr zugrundeliegenden Tat gefunden werden, haben dabei allerdings außer Betracht zu bleiben ... Mit Rücksicht auf den durch Entstehungsgeschichte ... und systematischen Zusammenhang ausgewiesenen Charakter der Bestimmung als Ausnahmeregelung kann die Grundlage des Unbilligkeitsurteils regelmäßig nur in einem vorwerfbaren prozessualen Fehlverhalten des Angeklagten gefunden werden ..., so beispielsweise wenn allein durch sein Verhalten das Verfahrenshindernis nicht frühzeitig erkannt wurde ... oder wenn es dem Angeklagten gelungen ist, durch eigenes Bemühen im Laufe des Verfahrens ein Verfahrenshindernis zu schaffen ...
      Davon ausgehend kann die angefochtene Entscheidung keinen Bestand haben. Es fehlt an hinreichenden tatsächlichen Anhaltspunkten dafür, daß der Beschwerdeführer dem Gericht die Kenntnis vom Vorliegen des Verfahrenshindernisses der Verhandlungsunfähigkeit in vorwerfbarer Weise vorenthalten hat.