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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1112. EINZELNORMEN DER EMRK

Art.6 Abs.2 EMRK

Nr.91/1

Die Unschuldsvermutung verbietet es nicht, die Strafaussetzung zur Bewährung wegen einer neuen Straftat zu widerrufen, wenn diese, ohne rechtskräftig festgestellt zu sein, zweifelsfrei feststeht.

The presumption of innocence does not prevent a court from revoking the probation order with regard to a new criminal offense committed by the probationer, if this new offense is established beyond reasonable doubt, even though the probationer has not yet been finally convicted by a court.

Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluß vom 15.10.1991 (2 Ws 296/91), NStZ 1992, 130 (ZaöRV 53 [1993], 416)

Einleitung:

      Der vorzeitig zur Bewährung aus der Haft entlassene Beschwerdeführer wurde wegen Straftaten in der Bewährungszeit erneut verurteilt. Vor Rechtskraft dieses maßgeblich auf das Geständnis des Beschwerdeführers gestützten Urteils widerrief die Strafkammer die Aussetzung der Reststrafe aus der früheren Verurteilung. Die sofortige Beschwerde hatte keinen Erfolg.

Entscheidungsauszüge:

      Der Senat hält an der Aufassung fest, daß die Aussetzung der Strafvollstreckung wegen einer neuen Straftat grundsätzlich auch schon dann widerrufen werden darf, wenn wegen der Nachtat noch kein rechtskräftiges Urteil vorliegt; allerdings muß das Gericht aufgrund zweifelsfreier Tatsachen in eigenständiger Würdigung die feste Überzeugung erlangt haben, daß der Verurteilte die neue Straftat begangen hat (... OLG Hamm, NJW 1973, 911; OLG Karlsruhe, MDR 1974, 245; OLG Bremen, StV 1984, 125 und 1986, 165; OLG Zweibrücken, StV 1985, 465; OLG Hamburg ..., JR 1979, 379).
      Der gegenteiligen Ansicht, die sich ... auf die besondere Bedeutung der Unschuldsvermutung beruft (OLG Celle, StV 1990, 504; OLG Schleswig, NJW 1991, 2303; OLG Bamberg, StV 1991, 174; einschränkend - "in aller Regel" - OLG Koblenz, StV 1991, 172 und "grundsätzlich"- OLG München, NJW 1991, 2302) vermag der Senat nicht zu folgen. Soweit die Unschuldsvermutung aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet wird und Verfassungsrang hat, ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn das Gericht das neue Ermittlungsverfahren heranzieht, aufgrund eigenständiger Würdigung erneut strafbares Verhalten feststellt und dieses zum Anlaß nimmt, die Strafaussetzung gemäß §56f Abs.1 Nr.1 StGB zu widerrufen (BVerfG, NStZ 1991, 30). Die Unschuldsvermutung schützt nicht davor, daß ein strafbares Verhalten - auch ohne rechtskräftige Verurteilung - in einem anderen gerichtlichen Verfahren festgestellt wird und hieraus für dieses Verfahren bestimmte Folgerungen gezogen werden (BVerfG, NStZ 1988, 21). ...
      Durchgreifende Bedenken ergeben sich auch nicht daraus, daß die Unschuldsvermutung des Art.6 Abs.2 MRK i.V. mit dem Ratifizierungsgesetz vom 7.8.1952 (BGBl.II 685, 953) als - einfaches - Bundesrecht neben §56f Abs.1 StGB Geltung beansprucht. Die gegenteilige Ansicht kann sich weder auf den Wortlaut dieser Vorschrift stützen, noch ist sie mit der Systematik der Widerrufsregelung zu vereinbaren; sie führt bei strikter Durchsetzung im Einzelfall auch für den Verurteilten zu Ergebnissen, die seinem Interesse widersprechen.
      Dem Wortlaut des §56f Abs.1 Nr.1 StGB, der lediglich von einer "Straftat" spricht, ist nicht zu entnehmen, daß die neue Straftat, die den Widerrufsgrund bildet, rechtskräftig abgeurteilt sein muß. Das Gegenteil findet aus der Sicht des Normadressaten in dem maßgeblichen Wortsinn der gewählten Formulierung (BVerfGE 73, 206, 234 f.) deutlichen Ausdruck. Der Gesetzgeber, dem es obliegt, die Auswirkungen der Unschuldsvermutung zu konkretisieren ..., hat auch ganz bewußt die Möglichkeit des Widerrufs wegen einer neuen Straftat eröffnet, ohne daß diese rechtskräftig abgeurteilt ist. Während nämlich §25 Abs.1 Nr.2 StGB a.F. den Widerruf vorsah für den Fall, daß der Verurteilte wegen eines innerhalb der Bewährungszeit begangenen Verbrechens oder vorsätzlichen Vergehens zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde, worunter nach allgemeiner Auffassung eine rechtskräftige Verurteilung zu verstehen war, wurde diese Einschränkung mit der Neufassung des §25 Abs.1 Nr.1 StGB durch das 1. Strafrechtsreformgesetz vom 25.6.1969 (BGBl.I, 645) ausdrücklich aufgegeben ... Diese Regelung, die im Bewußtsein der seit dem 3.9.1953 für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft gesetzten Menschenrechtskonvention getroffen wurde, hat der Gesetzgeber in Kenntnis der sich entwickelnden einhelligen Rechtsprechung in der Folgezeit auch nicht geändert, obwohl im Zusammenhang mit anderen Neuerungen in diesem Bereich dazu wiederholt Gelegenheit bestanden hätte ...
      Die Systematik der in §56f Abs.1 Satz 1 Nr.1 bis 3 StGB aufgeführten möglichen Gründe für den Widerruf der Strafaussetzung macht ebenfalls deutlich, daß die rechtskräftige Aburteilung einer im Widerrufsverfahren festgestellten neuen Straftat nicht erforderlich ist; nach Nr.2 genügt bei gröblichem oder beharrlichem Verstoß gegen Weisungen bereits die Besorgnis, daß der Verurteilte neue Straftaten begehen wird, im Falle von erteilten Auflagen der gröbliche oder beharrliche Verstoß als solcher. Angesichts dieser wesentlich geringeren Eingriffsvoraussetzungen spricht nichts dafür, daß bei einer im Widerrufsverfahren unzweifelhaft festzustellenden neuen Straftat, also einem weitaus gewichtigeren Widerrufsgrund, darüber hinaus die rechtskräftige Aburteilung dieser Tat im Erkenntnisverfahren verlangt werden muß.
      Die Beachtung der Unschuldsvermutung in ihrer Ausgestaltung durch Art.6 Abs.2 MRK führt zu keiner anderen Beurteilung. Die Formulierung "gesetzlicher" Nachweis der Schuld des Verurteilten gibt nichts dafür her, daß dieser Nachweis nur durch ein rechtskräftig abgeschlossenes Erkenntnisverfahren geführt werden kann. Für den vergleichbaren Fall der Voraussetzungen für Eingriffe in die Privatsphäre (Art.8 Abs.2 MRK) ist entschieden, daß der Begriff "gesetzlich" nicht formell, sondern materiell verstanden werden muß. Er erfaßt sowohl die geschriebenen Normen als auch die Grundsätze der Rechtsprechung ... Voraussetzung ist, daß die "gesetzlichen" Vorgaben eindeutig formuliert sind sowie Art und Umfang des Eingriffs festlegen. Dem entspricht die bisher einhellige Rechtsprechung, wenn sie hinsichtlich der Feststellung, daß der Verurteilte eine neue Straftat begangen hat, an die Überzeugungsbildung des Gerichts hohe und klar umrissene Anforderungen stellt. Im übrigen ist das Verfahren zur Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung nach §§453, 454 Abs.3 StPO ein in diesem Sinne gesetzlich geordnetes gerichtliches Verfahren, das durch vorgeschriebenes rechtliches Gehör und volle Nachprüfung im Beschwerderechtszug für den Verurteilten die notwendigen Rechtsgarantien bereithält. Jedenfalls dann, wenn - wie im vorliegenden Fall - der Verurteilte in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise die neue Straftat einräumt und auch hinsichtlich seiner Schuldfähigkeit keine vernünftigen Zweifel bestehen, ist deshalb der Forderung nach einem gesetzlichen Nachweis seiner Schuld Genüge getan.
      Durch die nach der bisher einhelligen Rechtsprechung an die Überzeugungsbildung des über den Widerruf entscheidenden Gerichts gestellten besonders hohen Anforderungen wird zugleich den ... Bedenken begegnet, der Freiheitsverlust sei irreparabel auch dann eingetreten, wenn im nachhinein festgestellt werde, daß der Verurteilte die Anlaßtat nicht begangen habe oder Schuldausschließungsgründe vorlägen.
      Die gegenteilige Auffassung würde im übrigen in Teilbereichen zu - auch aus der Sicht des Verurteilten - unbefriedigenden Ergebnissen führen. Der Verurteilte, der aufgrund der neuen Straftat sich in Untersuchungshaft befindet und wegen angestrebter besserer Haftbedingungen, insbesondere zur Wahrnehmung von Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten, in Strafhaft umgesetzt werden möchte, dürfte mit seinem - nicht ganz seltenen - Antrag auf Widerruf der früheren Strafaussetzung nicht gehört werden. Ein Widerruf käme mangels rechtskräftiger Schuldfeststellung aber auch dann nicht in Betracht, wenn Staatsanwaltschaft oder Gericht das wegen der neuen Straftat eingeleitete Verfahren gemäß §154 StPO einstellen; die - auch prozeßökonomische - Möglichkeit, das Verfahren wegen der neuen Straftat im Hinblick auf den Widerruf der Strafaussetzung gemäß §154 StPO ohne Verurteilung zu beenden, würde den Verfolgungsbehörden damit entgegen dem Interesse des Verurteilten aus der Hand genommen werden.
      Aus den genannten Gründen sieht der Senat deshalb - in Übereinstimmung mit den Oberlandesgerichten Köln (NJW 1991, 505), Düsseldorf ... (MDR 1991, 787), ... (MDR 1991, 982) und Stuttgart (MDR 1991, 982) - keine Veranlassung, die bisherige Rechtsprechung aufzugeben.
      Soweit ... auf das ... Ergebnis der Individualbeschwerde Nr.12748/78 vor der EKMR Bezug genommen wird ..., sind diese Anmerkungen ohne rechtliche Bedeutung. Sofern die Landesjustizverwaltungen entsprechend Nr.2 der gütlichen Einigung Hinweise der Bundesregierung an die Gerichte weitergeben, daß "bei der künftigen Anwendung des §56f Abs.1 Satz 1 Nr.1 StGB die Unschuldsvermutung gemäß Art.6 Abs.2 der Konvention zu beachten" sei, wären diese gegenstandslos und nach dem verfassungsrechtlichen Grundverständnis der Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Rechtspflege auch nicht unproblematisch; anzusprechen wäre allenfalls der Gesetzgeber gemäß Nr.3 der von der Bundesregierung übernommenen Verpflichtung ...