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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1842.60. ASSOZIIERUNGSABKOMMEN MIT DER TÜRKEI

Nr.92/1

Ein straffällig gewordener Türke kann auch aus Gründen der Generalprävention ausgewiesen werden, weil der ordre public-Vorbehalt in Art.14 Abs.1 des Assoziationsratsbeschlusses Nr.1/80 die EG-Mitgliedstaaten nicht auf Ausweisungen zum Zwecke der Spezialprävention beschränkt.

A Turkish national who has committed a crime can be expelled for reasons of general crime prevention because the public policy reservation in Art.14 (1) of Decision No.1/80 of the Council of Association does not limit the EC member states to expulsions for the purpose of deterring individual offenders from further wrongdoing.

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 11.5.1992 (1 S 3135/91), NVwZ-RR 1992, 659 (ZaöRV 54 [1994], 548) (rechtskräftig)

Einleitung:

      Der Kläger war mehrfach wegen Rauschgiftdelikten verurteilt worden. Mit der angegriffenen Verfügung wurde er aus spezial- und generalpräventiven Gründen ausgewiesen. Dagegen wendet er sich erfolglos mit seiner Klage.

Entscheidungsauszüge:

      In rechtlich unbedenklicher Weise haben die Beklagte und das Regierungspräsidium S. [als Widerspruchsbehörde] in den angegriffenen Bescheiden die Ausweisung des Klägers sowohl auf spezialpräventive als auch generalpräventive Gründe gestützt. ... [Daran waren sie] auch nicht durch die Bestimmungen des Beschlusses Nr.1/80 des durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei geschaffenen Assoziationsrats vom 19.9.1980 ... gehindert; insbesondere durften sie die Ausweisung des Klägers auch auf generalpräventive Erwägungen stützen. Es kann dabei dahinstehen, inwieweit der Kläger die tatbestandlichen Voraussetzungen der Privilegierungen in Art.6, 7 Assoziationsratsbeschluß Nr.1/80 erfüllt und ob aus ihnen gegebenenfalls eine aufenthaltsrechtliche Besserstellung des Klägers abgeleitet werden könnte ..., denn die genannten Bestimmungen gelten nur vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind (Art.14 Abs.1 Assoziationsratsbeschluß Nr.1/80). ... Der besondere Ausweisungsschutz, der den freizügigkeitsberechtigten EG-Angehörigen zukommt und deren Ausweisung nur aus spezialpräventiven Gründen und bei einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung zuläßt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§12 Abs.3 Satz 1, Abs.4 AufenthG/EWG ...), kann bei Anwendung des Art.14 Abs.1 Assoziationsratsbeschluß Nr.1/80 nicht ohne weiteres auch zugunsten von Ausländern türkischer Staatsangehörigkeit herangezogen werden ... Denn anders als der Vorbehalt aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit in Art.48 Abs.3 und 56 Abs.1 EWGV, der durch die in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbare Richtlinie Nr.64/221 vom 25.2.1964 ... mit näher ausgeformten Ausweisungsschutzregeln (Art.3 Abs.1, 2 der Richtlinie) umgesetzt und durch §12 AufenthG/EWG zusätzlich in nationales Recht übergeleitet wurde ..., enthalten weder Art.14 Abs.1 Assoziationsratsbeschluß Nr.1/80 selbst noch ergänzende assoziationsrechtliche Vorschriften Bestimmungen, die diesen Vorbehalt in entsprechender Weise konkretisierten oder einschränkten.
      Angesichts dieser Rechtslage hält der Senat Art.14 Abs.1 Assoziationsratsbeschluß Nr.1/80 nicht in einem Vorabentscheidungsverfahren durch den EuGH für klärungsbedürftig. ... Der Senat sieht deshalb keine Veranlassung, der Anregung des Klägers folgend eine Vorabentscheidung des EuGH ... einzuholen (Art.177 Abs.2 EWGV).
      Die Ausweisung des Klägers verstößt schließlich auch nicht gegen das durch Art.8 Abs.1 ... EMRK ... geschützte Recht des Klägers auf Achtung seines Familienlebens. Anders als in der durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entschiedenen Rechtssache Moustaquim (InfAuslR 1991, 149) ... sind die Beziehungen des Klägers zu seinem Heimatland ungleich intensiver als die des dortigen Antragstellers. Jener hatte sein Heimatland bereits mit dem ersten Lebensjahr verlassen und konnte nur noch wenige Worte seiner Muttersprache sprechen, so daß seine staatsangehörigkeitsrechtliche Bindung dorthin keiner "konkreten menschlichen Realität mehr entsprach" (so EGMR, InfAuslR 1991, 66). Der Kläger hingegen hat die Türkei erst mit dem 9.Lebensjahr verlassen und beherrscht nach wie vor seine Muttersprache. Seine Ausweisung ist daher auch unter Berücksichtigung des Art.8 Abs.1 EMRK nicht unverhältnismäßig.

Hinweis:

      Ebenso VGH Baden-Württemberg, Beschluß vom 11.11.1993 (13 S 2080/93), InfAuslR 1994, 127.