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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1843. NIEDERLASSUNGSFREIHEIT

Nr.92/2

Nach deutschem Recht führt die Verlegung des Sitzes einer deutschen Gesellschaft in einen anderen EG-Mitgliedstaat zur Auflösung dieser Gesellschaft. Dies ist mit Art.52, 58 EWG-Vertrag vereinbar.

Under German law, the transfer of a German corporation's domicile to another EC member state will result in the dissolution of this corporation. This is compatible with Art.52, 58 of the EEC Treaty.

Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluß vom 7.5.1992 (3 Z BR 14/92), RIW 1992, 674

Einleitung:

      Beschwerdeführerin ist eine GmbH mit Sitz in München. Nachdem deren Alleingesellschafterin beschlossen hatte, den Firmensitz nach London zu verlegen, meldete die GmbH dies als Satzungsänderung zur Eintragung in das Handelsregister an. Rechtspfleger und Landgericht als Beschwerdegericht hielten diese Satzungsänderung für nicht eintragungsfähig. Auch die weitere Beschwerde der Gesellschaft hatte keinen Erfolg.

Entscheidungsauszüge:

      II. ... 1. In der deutschen Rechtsordnung gibt es keine Kollisionsnormen für juristische Personen; deshalb fehlt auch eine gesetzliche Regelung darüber, wie grenzüberschreitende Sitzverlegungen juristischer Personen zu behandeln sind. Die Rechtsordnung, die für die Rechtsverhältnisse der juristischen Personen maßgebend ist, also deren Personalstatut, muß somit durch Rechtsprechung und Rechtslehre bestimmt werden. Dabei wird im allgemeinen von der Sitztheorie ausgegangen, daneben wird auch die Gründungstheorie ... vertreten. Der Unterschied zwischen diesen Theorien liegt vereinfachend dargestellt darin, daß nach der Gründungstheorie für das Personalstatut die Rechtsordnung maßgebend ist, nach der die juristische Person gegründet wurde, nach der Sitztheorie hierfür aber die Rechtsordnung des tatsächlichen Verwaltungssitzes bestimmend ist. ...
      b) Verlegt eine der deutschen Rechtsordnung unterfallende GmbH ihren tatsächlichen Verwaltungssitz ins Ausland, dann wechselt sie nach der in der Rechtsprechung nahezu einhellig, im Schrifttum überwiegend vertretenen Sitztheorie ihr Personalstatut ..., während sie es nach der Gründungstheorie beibehält. Der Senat verkennt nicht, daß in jüngster Zeit im Schrifttum die Gründungstheorie Anhänger gefunden hat, die deren Anwendung vor allem auch im Bereich der europäischen Gemeinschaft unter Hinweis auf die nach Artikel 52, 58 EWGV garantierte Niederlassungsfreiheit fordern ...
      c) Der Senat sieht auch nach erneuter Überprüfung keinen Anlaß, die von ihm schon bisher vertretene Sitztheorie ... aufzugeben. Für diese Theorie, die eine Schutztheorie ist, sprechen nach wie vor die besseren Argumente. Sie gewährleistet, daß regelmäßig das Recht des Staates durchgesetzt wird, der am meisten betroffen ist; sie hat den Vorzug der Sachnähe, ermöglicht eine wirksame staatliche Kontrolle und bietet den größtmöglichen Schutz der Gläubigerinteressen ...
      2.a) Der Beschluß, den tatsächlichen Verwaltungssitz und den Satzungssitz der GmbH ins Ausland zu verlegen, hat nach überwiegender Auffassung die Auflösung der Gesellschaft zur Folge. ...
      b) An diesem Ergebnis ändert sich auch nichts, wenn es um die Sitzverlegung einer deutschen GmbH von einem EG-Staat in einen anderen Mitgliedstaat geht. ...
      (1) Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art.177 EWGV gilt auch für die Freiwillige Gerichtsbarkeit ... [I]m vorliegenden Verfahren [ist] eine letztinstanzliche Entscheidung im Sinne von Art.177 EWGV gegeben. Entscheidungserheblich ist ..., ob Art.58 EWGV dahin auszulegen ist, daß sich für die Sitzverlegung einer deutschen GmbH in einen anderen EG-Mitgliedstaat die Anwendung der Sitztheorie verbietet. Die Vorlagepflicht nach Art.177 EWGV ... entfällt, wenn der Europäische Gerichtshof über eine gleichlautende Frage in einem anderen Verfahren bereits entschieden hat ... Letzteres ist hier der Fall.
      (2) Der EuGH hat in seinem Urteil vom 27.9.1988 (NJW 1989, 2186 ... - Daily Mail) u.a. ausgeführt, in einigen Mitgliedstaaten müsse nicht nur der Satzungssitz, sondern der wahre Sitz, der tatsächliche Hauptsitz, also die Hauptverwaltung der Gesellschaft, in deren Hoheitsgebiet liegen; die Verlegung der Geschäftsleitung aus diesem Territorium setze somit die Auslösung der Gesellschaft mit all den Folgen voraus, die eine solche Liquidierung gesellschafts- und steuerrechtlich mit sich bringe. Die Unterschiede der Regelungen in den nationalen Rechten seien bei der Schaffung des EWG-Vertrages bekannt gewesen; dieser trage den Unterschieden im nationalen Recht Rechnung. Der EG-Vertrag habe nicht etwa die durch diese Unterschiede aufgeworfenen Probleme durch Regeln über das Niederlassungsrecht lösen wollen ..., sondern in Art.54 Abs.3 lit.g EWGV (Richtlinie) und Art.220 Unterabs.3 EWGV (Staatsvertrag) nur die Rechtsgrundlage für gesetzgeberische Maßnahmen oder Übereinkommen geschaffen, die allerdings noch nicht vorlägen ... Entsprechende Übereinkommen oder gesetzgeberische Maßnahmen liegen auch bis heute nicht vor.
      Nach Auffassung des EuGH gewähren nicht schon die Art.52 und 58 EWGV beim derzeitigen Stand des Gemeinschaftsrechts einer Gesellschaft, die nach dem Recht eines Mitgliedstaates gegründet ist und in diesem ihren satzungsmäßigen Sitz hat, das Recht, den Sitz ihrer Geschäftsleitung in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen ...
      (3) Die Rechtsbeschwerde weist allerdings zutreffend darauf hin, daß der hier vorliegende Sachverhalt nicht ohne weiteres mit dem vergleichbar ist, welcher der Entscheidung des EuGH zugrunde lag. Dort waren zwei Mitgliedstaaten beteiligt, in denen kollisionsrechtlich die Gründungstheorie maßgebend ist ... Berehns führt in seiner kritischen Anmerkung zur Entscheidung des EuGH u.a. aus, daß dieser 'genau genommen eine andere Frage beantwortet habe als die, welche ihm gestellt war' (... IPRax 1989, 354/357), weil der EuGH keinen Anlaß gehabt habe, sich hier zu den kollisionsrechtlichen Folgen der Sitztheorie zu äußern. Das ändert aber nichts daran, daß der EuGH diese Frage eindeutig dahingehend beantwortet hat, die Sitztheorie sei mit Art.58 EWGV vereinbar, diese Bestimmung gewähre Niederlassungsfreiheit für juristische Personen nur insoweit, als inländisches Recht nicht entgegenstehe. Die nationalen gesellschafts- und steuerrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten haben also Vorrang gegenüber der Auswanderungsfreiheit von Gesellschaften ...
      (4) Damit entfällt für den Senat die Pflicht, nach Art.177 Abs.3 EWGV die Frage dem EuGH vorzulegen.