Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Logo Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

Sie befinden sich hier: Publikationen Archiv Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993

Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


Home | Inhalt | Zurück | Vor

Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1881. VORABENTSCHEIDUNGSVERFAHREN

Nr.87/3

Weicht ein letztinstanzliches Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewußt von der in einem anderen Ausgangsverfahren ergangenen Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs ab und legt es gleichwohl nicht selbst vor, verletzt es Art.101 Abs.1 Satz 2 GG in willkürlicher Weise.

If a court of last instance, competent to decide on the merits of a case, deliberately departs from a preliminary ruling rendered by the European Court of Justice in another case without itself referring the matter to this court, it arbitrarily contravenes Art.101 (1) clause 2 of the Basic Law.

Bundesverfassungsgericht (1. Kammer des zweiten Senats), Beschluß vom 4.11.1987 (2 BvR 876/85), NJW 1988, 2173 (ZaöRV 48 [1988], 756)

Einleitung:

      Die erfolgreiche Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen ein Urteil des Bundesfinanzhofs, das von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs abgewichen war, ohne diesem die Sache nach Art.177 Abs.3 EwGV vorzulegen.

Entscheidungsauszüge:

      2. In seinem Beschluß vom 8.4.1987 [BVerfGE 75, 223 - s.1881 (87/3)] ... hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, daß der Bundesfinanzhof Art.102 Abs.1 Satz 2 GG verletzt hat, weil er sich seiner Bindung zufolge Art.177 Abs.3 EWGV an eine im selben Verfahren ergangene Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs entzogen hat.
      Das Bundesverfassungsgericht hat ferner entschieden, daß ein vorlagepflichtiges deutsches Gericht, falls es der Rechtsauffassung des EuGH gleichwohl nicht folgen will, gemäß Art.177 Abs.3 EWGV zu einer neuerlichen Vorlage verpflichtet ist. ...
      3. Der hier zur Entscheidung anstehende Sachverhalt unterscheidet sich nur insofern von dem dem Beschluß vom 8.4.1987 zugrundeliegenden Sachverhalt, als vorliegend eine Vorabentscheidung des EuGH zum Anwendungsvorrang der Bestimmungen der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie nicht im selben Ausgangsverfahren ergangen ist. Nach der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH (vgl. EuGHE 1982, 3415 [3431] ...) besteht eine Vorlageverpflichtung eines letztinstanzlichen Gerichts dann, "wenn in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine Frage des Gemeinschaftsrechts gestellt wird, es sei denn, es hat festgestellt, ... daß die betreffende gemeinschaftsrechtliche Frage bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war". Der Wegfall der Vorlagepflicht gemäß Art.177 Abs.3 EWGV beruht in einem solchen Fall darauf, daß für eine neuerliche Vorlage an den EuGH deswegen keine Veranlassung besteht, weil die klärungsbedürftige entscheidungserhebliche Frage vom EuGH bereits beantwortet ist. Wollte ein Gericht eines Mitgliedstaates in einem solchen Fall der Rechtsprechung des EuGH nicht folgen, ist es gem. Art.177 Abs.3 EWGV zu einer Vorlage an den EuGH verpflichtet; in seinem Vorlagebeschluß muß es seine Bedenken gegen die entscheidungserhebliche Rechtsauffassung des EuGH - hier zur Anrufbarkeit nicht fristgerecht in innerstaatliches Recht umgesetzter Richtlinien - dartun.
      Weicht aber ein letztinstanzliches Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewußt von der Rechtsprechung des EuGH zu einer in Rede stehenden, entscheidungserheblichen Frage ab und legt gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vor, so verkennt es die Vorlagepflicht aus Art.177 Abs.3 EWGV und verletzt Art.101 Abs.1 Satz 2 GG in willkürlicher Weise, wie immer im übrigen der Maßstab der Willkür im Hinblick auf Verstöße gegen die Vorlagepflicht aus Art.177 EWGV zu fassen sein mag. So liegt der Fall hier.