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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1881. VORABENTSCHEIDUNGSVERFAHREN

Nr.87/2

[a] Zur Bindungswirkung von Vorabentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs und seiner Stellung als "gesetzlicher Richter" (Art.101 Abs.1 Satz 2 GG).

[b] Die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien hält sich im Rahmen des durch das Zustimmungsgesetz zum EWG-Vertrag festgelegten Intergrationsprogramms. Das Zustimmungsgesetz ist insoweit von Art.24 Abs.1 GG gedeckt.

[a] On the binding effect of preliminary rulings of the European Court of Justice and the Court's status as "lawful judge" under Art.101 (1) clause 2 of the Basic Law.

[b] The jurisprudence of the European Court of Justice on the direct effect of directives does not transgress the limits of the integration program as laid down by the German act of assent to the EEC Treaty. The act is insofar in accordance with Art.24 (1) of the Basic Law.

Bundesverfassungsgericht, Beschluß vom 8.4.1987 (2 BvR 687/85), BVerfGE 75, 223 (ZaöRV 48 [1988], 749 f.)

Einleitung:

      Die Beschwerdeführerin erzielte im 1. Halbjahr 1978 Umsätze aus Kreditvermittlungsgeschäften. Unter Berufung auf Art.13 Teil B Buchst.d Nr.1 der 6. Richtlinie des Rates (EWG) vom 17.5.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer (77/388/EWG, ABl. Nr.L 145/1) nahm sie für diese Umsätze Steuerfreiheit in Anspruch. Das Finanzamt verneinte die Steuerfreiheit jedoch und unterwarf die Umsätze der Umsatzsteuer nach dem deutschen Umsatzsteuergesetz. Gemäß Art.1 Abs.2 der 6. USt-Richtlinie hätte die Bundesrepublik Deutschland diese bis 1.1.1978, nach einer späteren Änderung bis 1.1.1979 umsetzen müssen, hatte dies jedoch erst zum 1.1.1980 getan. Auf die Klage der Beschwerdeführerin holte das Finanzgericht eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs nach Art.177 EWGV ein, nach der ein Kreditvermittler sich für Umsätze im 1. Halbjahr 1978 auf die 6. USt-Richtlinie berufen konnte, wenn diese durch den nationalen Gesetzgeber nicht durchgeführt worden war. Daraufhin gab das Finanzgericht der Klage statt. Der Bundesfinanzhof hob diese Entscheidung jedoch wegen Verstoßes gegen Art.20 Abs.3 und 24 Abs.1 GG auf und wies die Klage ab. Die EWG habe im Umsatzsteuerrecht keine Kompetenz, Recht mit unmittelbarer Wirkung im Inland zu setzen. Auch der EuGH könne im Vorabentscheidungsverfahren eine solche Kompetenz nicht schaffen. Deshalb sei die eingeholte Entscheidung des EuGH insoweit nicht verbindlich. Dem Antrag der Beschwerdeführerin, erneut eine Entscheidung des EuGH nach Art.177 Abs.3 EwGV herbeizuführen, entsprach der BFH nicht. Auf die Verfassungsbeschwerde hob das Bundesverfassungsgericht das Urteil des BFH auf.

Entscheidungsauszüge:

      B. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist begründet. Das angegriffene Urteil des Bundesfinanzhofs verstößt gegen Art.101 Abs.1 Satz 2 GG und war deshalb aufzuheben.
      1. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG (BVerfGE 73, 339 [366 ff.]).
      2. Die Rechtswirkung der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie war für den Bundesfinanzhof eine entscheidungserhebliche Frage im Sinne des Art.177 Abs.3 EWGV. Diese Frage war nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts zu beurteilen. Da der EWG-Vertrag integraler Bestandteil des deutschen Zustimmungsgesetzes ist, handelte es sich hierbei um Vertragsauslegung und nicht lediglich um die Auslegung und Anwendung von Recht aus deutscher Rechtsquelle. Wollte der Bundesfinanzhof unter Verneinung der Bindungswirkung der im selben Ausgangsverfahren über die nämliche Frage ergangenen Vorabentscheidung des Gerichtshofs dessen Rechtsauffassung nicht folgen, so war er verpflichtet, diese Frage dem Gerichtshof neuerlich gemäß Art.177 Abs.3 EWGV vorzulegen. Dieser Vorlagepflicht ist der Bundesfinanzhof in objektiv willkürlicher Weise nicht nachgekommen ...
      a) Art.177 EWGV spricht dem Gerichtshof im Verhältnis zu den Gerichten der Mitgliedstaaten die abschließende Entscheidungsbefugnis über die Auslegung des Vertrages sowie über die Gültigkeit und die Auslegung der dort genannten abgeleiteten gemeinschaftlichen Akte zu; die nach Maßgabe des Art.177 EWGV ergangenen Urteile des Gerichtshofs sind für alle mit demselben Ausgangsverfahren befaßten mitgliedstaatlichen Gerichte bindend (BVerfGE 45, 142 [162]; 52, 187 [200 f.]; 73, 339 [370]). Diese Kompetenzzuweisung ist auf ein Zusammenwirken zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften gerichtet; sie dient im Interesse des Vertragszieles der Integration, der Rechtssicherheit und Rechtsanwendungsgleichheit einer möglichst einheitlichen Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch alle Gerichte im Geltungsbereich des EWG-Vertrags. Die Begründung dieser Kompetenz der Gemeinschaft, die vom Gerichtshof wahrgenommen wird, ist im Hinblick auf Art.24 Abs.1 GG verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie schließt eine konkurrierende Kompetenz der deutschen Gerichte aus.
      b) Die durch Art.177 EWGV übertragene Kompetenz ist nicht schrankenlos. Die ihr durch das Grundgesetz gezogenen Grenzen unterliegen letztlich der Gerichtsbarkeit des Bundesverfassungsgerichts ...
      c) Der Bundesfinanzhof sieht diese verfassungsrechtlichen Grenzen durch die rechtliche Qualifizierung, die der Gerichtshof im vorliegenden Fall der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie beigelegt hat, als überschritten an. Diese Qualifizierung sei nicht mehr vom deutschen Zustimmungsgesetz zu den Römischen Verträgen gedeckt; der Gerichtshof der Gemeinschaften ermangele der Befugnis, Richtlinien im Wege der Rechtsfortbildung den Verordnungen im Sinne des Art.189 EWGV gleichzustellen. Der Bundesfinanzhof sei angesichts dessen von Verfassungs wegen gehalten, im vorliegenden Fall das deutsche Umsatzsteuergesetz anzuwenden. Der Sache nach verneint der Bundesfinanzhof die Bindungswirkung von Vorabentscheidungen des Gerichtshofs der Gemeinschaften nach Art.177 EWGV, sofern sie die Grenzen der der Gemeinschaft im Sinne des Art.24 Abs.1 GG übertragenen Hoheitsrechte überschritten.
      Von Verfassungs wegen kann der Auffassung des Bundesfinanzhofs für die in Rede stehende Frage der rechtlichen Qualifizierung bestimmter Arten von Richtlinien der Gemeinschaft nicht gefolgt werden.
      aa) In den Anfangsjahren der Europäischen Gemeinschaft ging man davon aus, daß Richtlinien im Sinne des Art.189 EWGV sich nur an die Mitgliedstaaten richten und vor ihrer Vollziehung im innerstaatlichen Recht keine Rechtswirkung für den privaten Einzelnen entfalteten ... In einem grundlegenden Urteil vom 5. Februar 1963 (RS 26/62, Slg.1963, S.5) entschied der Gerichtshof, daß der seinem Wortlaut nach (nur) an die Mitgliedstaaten gerichtete Art.12 EWGV - also eine Vertragsvorschrift - unmittelbare Wirkungen erzeuge und individuelle Rechte der privaten Einzelnen begründen könne. Dies warf die Frage auf, ob Vergleichbares auch für an Mitgliedsstaaten gerichtete abgeleitete Gemeinschaftsakte gelte, jedenfalls soweit sie sich nach ihrem Inhalt dazu eigneten. Für einen solchen Schluß konnten die beiden zentralen Begründungselemente des genannten Urteils sprechen: die - bezogen auf die Vertragsziele - auf die größtmögliche Wirksamkeit der rechtlichen Bestimmungen gerichtete Auslegung der Vertragsnormen sowie die Einbeziehung des Marktbürgers in das Gemeinschaftsrecht im Interesse eines wirkungsvollen Rechtsschutzes, der nicht nur über Vertragsverletzungsklagen gemäß Art.169 EWGV gesichert werden sollte. Auf der Grundlage dieser Diskussion ... kam es zu den Urteilen vom 6. und 21. Oktober 1970 (RS 9/70, 20/70, 23/70, Grad u.a. [Leber-Pfennig], Slg.1970, S.825, 861, 881) und vom 17. Dezember 1970 (RS 33/70, SACE [Abgaben gleicher Wirkung], Slg.1970, S.1213); die Urteile zum "Leber-Pfennig" betrafen eine "Entscheidung", nicht eine Richtlinie im Sinne des Art.189 EWGV. Doch waren ihre Begründungen auf Richtlinien übertragbar. Dies galt insbesondere für das Argument, mit dem der Gerichtshof dem Hinweis auf den bloßen Wortlaut des Art.189 EWGV und der dort vorgesehenen Unterscheidung zwischen Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen begegnete: Aus der unmittelbaren Geltung von Verordnungen folge nicht zwangsläufig, daß andere Rechtsakte niemals unmittelbare, direkte Wirkung entfalten könnten. Eine (an einen Mitgliedstaat gerichtete) Entscheidung könne praktische Wirksamkeit nur entfalten, wenn der private Einzelne sich vor Gericht auf die dem Mitgliedstaat durch diesen Akt auferlegte Verpflichtung berufen könne; dadurch würde die Entscheidung noch nicht der Verordnung gleichgestellt. Dabei stellte der Gerichtshof darauf ab, ob die jeweilige Verpflichtung hinreichend klar und unbedingt ist.
      bb) Begleitet von einer durchaus gegensätzlichen und lebhaften wissenschaftlichen Diskussion ... hat der Gerichtshof den eingeschlagenen Weg weiterverfolgt. Er hat dabei Richtlinien zwar nicht den Verordnungen förmlich gleichgestellt, wohl aber dem privaten Einzelnen die Möglichkeit zuerkannt, sich auf die Bestimmungen von Richtlinien gegenüber dem Mitgliedstaat, an den sie gerichtet sind - nicht auch gegenüber Dritten -, in gewissem Umfang zu seinen Gunsten zu "berufen". Er hat ferner ausgesprochen, daß Richtlinien zur Auslegung des ihrer Durchführung dienenden nationalen Rechts heranzuziehen seien ...
      cc) Nach der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs (vgl. insbesondere Urteil vom 19. Januar 1982, RS 8/81, Slg.1982, S.53 und die diese Entscheidung zur Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie bestätigenden Urteile vom 10. Juni 1982, RS 255/81, Slg.1982, S.2301 und vom 22. Februar 1984, RS 70/83, Slg.1984, S.1075 ...) ergibt sich mittlerweile folgendes Bild: Da die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, ihr innerstaatliches Recht den Richtlinien anzupassen, treffen im Regelfall die Wirkungen der Richtlinie den "Marktbürger" erst auf dem Wege der von dem jeweiligen Mitgliedstaat ergriffenen Vollzugsmaßnahmen; dabei ist die Richtlinie für die Auslegung der mitgliedstaatlichen Durchführungsregelung insoweit von Bedeutung, als die Gerichte entsprechend der aus Art.5 EWGV folgenden Verpflichtung zur Gemeinschaftstreue diejenige Auslegung des nationalen Rechts zu wählen haben, die dem Inhalt der Richtlinie in der ihr vom Gerichtshof gemäß Art.177 EWGV gegebenen Auslegung entspricht.
      Nur für den Fall einer nicht ordnungsgemäß, zumal nicht fristgerecht erfolgten Vollziehung einer Richtlinie durch einen Mitgliedstaat hat der Gerichtshof dem privaten Einzelnen das Recht zuerkannt, sich vor den mitgliedstaatlichen Gerichten gegenüber entgegenstehendem nationalen Recht auf durch die Richtlinie auferlegte Verpflichtungen zu berufen, sofern diese klar und unbedingt sind und zu ihrer Anwendung insoweit keines Ausführungsakts mehr bedürfen ...
      dd) Diese Rechtsprechung des Gerichtshofs fand im deutschsprachigen Schrifttum weitgehend Zustimmung ... Allerdings beschränkte sich diese wissenschaftliche Auseinandersetzung fast ausschließlich auf die gemeinschaftsrechtlichen und erörterte nicht allfällige verfassungsrechtliche Fragen ...
      d) Sowohl die kompetenz- und materiellrechtliche Rechtsauffassung des Gerichtshofs der Gemeinschaften zur Rechtsnatur von Richtlinien der in Rede stehenden Art als auch die Methode, mit der er diese Rechtsauffassung entwickelt hat, halten sich im Rahmen des durch das Zustimmungsgesetz zum EWG-Vertrag abgesteckten Integrationsprogramms; ebensowenig überschreitet das Zustimmungsgesetz zum EWG-Vertrag, das dieses Ergebnis wie die Methode der Rechtsfindung des Gerichtshofs deckt, die rechtsstaatlichen Grenzen, die einer Übertragung von Hoheitsrechten nach Art.24 Abs.1 GG von Verfassungs wegen gesetzt sind ...
      aa) Der Gerichtshof stützt sich zum einen auf das Gefüge der Handlungsformen des Art.189 EWGV (Verordnung, Richtlinie, Entscheidung), zum anderen auf das Ziel des Vertrags, gerade auch dem Marktbürger, um dessentwillen die Gemeinschaft letztlich errichtet sei und wirksam funktionieren solle, zureichenden Rechtsschutz zu verschaffen. Es ist kein unvertretbarer Schluß, wenn der Gerichtshof aus der Bestimmung des Art.189 EWGV, daß die Verordnung "unmittelbar" gilt, folgert, daß damit nicht schon eine "unmittelbare" Rechtswirkung der anderen Rechtsakte (Entscheidung, Richtlinie) ausgeschlossen sei. Es ist ferner methodisch nicht unvertretbar, wenn der Gerichtshof dann im Hinblick auf das Ziel, dem Marktbürger möglichst weitreichenden Rechtsschutz zu verschaffen und der unstreitigen Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Richtlinien zu befolgen, Nachdruck zu verleihen, zu dem Schluß gelangt, der Marktbürger könne sich in bestimmten begrenzten Fällen gegenüber dem Mitgliedstaat in einem Rechtsstreit auf die Richtlinie "berufen" und der Mitgliedstaat könne ihm die Nichterfüllung der Richtlinie nicht entgegenhalten. Auch das Bundesverfassungsgericht hat die unmittelbare Rechtswirkung von Akten der Gemeinschaft im Zusammenhang mit dem Rechtsschutz subjektiver Rechte der Bürger gesehen (vgl. BVerfGE 31, 145 [173 ff.] ...).
      Der Gerichtshof nimmt hierdurch nicht, wie der Bundesfinanzhof meint, für die Gemeinschaft eine Rechtsetzungsgewalt nach Art gleichsam einer Verordnungskompetenz auf einem Gebiet (Umsatzsteuerrecht) in Anspruch, auf dem sie nur eine Richtlinienkompetenz besitze. Vielmehr beschränkt er sich darauf, die Rechtswirkungen einer bestehenden Kompetenz näher auszugestalten. Zwar kommt die Möglichkeit des privaten Einzelnen, sich auf die Richtlinie zu "berufen", einer normativen Wirkung - jedenfalls im bilateralen Verhältnis zum angesprochenen Mitgliedstaat - praktisch gleich; sie bedeutet aber nicht eine Erweiterung der Rechtsetzungskompetenz der Gemeinschaft. Der eigentliche Sinn dieser Möglichkeit des Sich-Berufen-Könnens liegt nicht darin, die Rechtsetzungskompetenz der Gemeinschaft zu erweitern, sondern die durch die Richtlinie begründete Verpflichtung des Mitgliedstaates wirkungsvoll und zumal in rechtsstaatlicher Weise zu sanktionieren: unabhängige Gerichte sollen sie feststellen und ihre Nichterfüllung durch Richterspruch im Einzelfall sanktionieren.
      Darin liegt gewiß ein Stück Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof ... und nicht lediglich Konkretisierung eines schon durch den Vertrag allgemein vorgegebenen Sanktionsgefüges im Einzelfall: Die Sanktionierung der Nichterfüllung von Richtlinien nicht allein durch eine Verletzungsklage der Gemeinschaft gegen den Mitgliedstaat, sondern auch durch "Berufung auf die Richtlinie" im Rechtsstreit des privaten Einzelnen gegen den Mitgliedstaat zu ermöglichen, schafft eine neue Sanktionskategorie. Sie fügt sich indes nach ihrer Leitidee in die rechtsstaatliche Struktur der Gemeinschaft ein, ist vom Gerichtshof gerade an dieser rechtsstaatlichen Grundstruktur ausgerichtet und von dort her ausgestaltet worden.
      bb) Es ist mit Art.24 Abs.1 GG vereinbar, dem Gerichtshof, einer zwischenstaatlichen Einrichtung, eine derartige Befugnis zur Rechtsfortbildung im Bereich des Kompetenzrechts dieser Einrichtung zu übertragen. Zwar ist es auch verfassungsrechtlich erheblich, ob eine zwischenstaatliche Einrichtung im Sinne des Art.24 Abs.1 GG sich in den Grenzen der ihr übertragenen Hoheitsrechte hält oder aus ihnen ausbricht (vgl. BVerfGE 37, 271 [279 f.]; 58, 1 [30 f.]; 73, 339 [375]). Der Gemeinschaft ist durch den EWG-Vertrag nicht eine Rechtsprechungsgewalt zur unbegrenzten Kompetenzerweiterung übertragen worden. Die Gemeinschaft ist kein souveräner Staat im Sinne des Völkerrechts ..., dem eine Kompetenzkompetenz über innere Angelegenheiten zukäme. Auf sie ist weder die territoriale Souveränität noch die Gebiets- und die Personalhoheit der Mitgliedstaaten übertragen worden; ihre auswärtigen Befugnisse betreffen begrenzte Bereiche, mögen sie im einzelnen hierbei auch nicht, wie im Bereich anderer Vertragsziele, durch den Grundsatz der Spezialermächtigung beschränkt sein. Nach wie vor sind derzeit die Mitgliedstaaten im Rahmen des allgemeinen Völkervertragsrechts die Herren der Gemeinschaftsverträge, wie nicht zuletzt die Einheitliche Europäische Akte vom 17. und 28. Februar 1986 ... belegt.
      Zulässig und von den Auslegungsregeln für die Gemeinschaftsverträge her nachgerade geboten ist es indessen, vorhandene Kompetenzen der Gemeinschaft im Lichte und im Einklang mit den Vertragszielen auszulegen und zu konkretisieren. Wo insoweit generelle Grenzen der Reichweite der Gemeinschaftsgewalt verlaufen, kann hier dahinstehen. Die vorliegende Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Möglichkeit des Marktbürgers, sich auf Richtlinien bestimmter Art unmittelbar zu berufen, bleibt weit davon entfernt, diese Grenzen zu überschreiten. Das Ergebnis dieser Rechtsprechung hält sich im Gefüge der vertraglich begründeten Handlungsformen der Gemeinschaftsgewalt; sie werden nicht erweitert oder durch neuartige Handlungsformen ergänzt; die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten (zur Richtlinienerfüllung) werden weder erhöht noch verschärft - erhöht wird die Wirkungskraft einer bestimmten Art von Richtlinien mit dem Ziel, ihre Beachtung durch die Mitgliedstaaten besser zu gewährleisten. Angesichts des nicht unerheblichen Gefälles zwischen den Mitgliedstaaten beim Vollzug von Richtlinien dient dies zumal der Herstellung der Rechtsanwendungsgleichheit zwischen den Marktbürgern und stellt keine Überschreitung der Grenzen der Hoheitsbefugnisse dar, die für die Gemeinschaft durch den Abschluß des EWG-Vertrages begründet worden sind.
      cc) Auch gegen die Methode richterlicher Rechtsfortbildung, deren sich der Gerichtshof bedient hat, ist weder unter dem Maßstab des Zustimmungsgesetzes zum EWG-Vertrag noch dem des Art.24 Abs.1 GG etwas zu bewenden. Zwar ist dem Gerichtshof keine Befugnis übertragen worden, auf diesem Wege Gemeinschaftskompetenzen beliebig zu erweitern; ebensowenig aber können Zweifel daran bestehen, daß die Mitgliedstaaten die Gemeinschaft mit einem Gericht ausstatten wollten, dem Rechtsfindungswege offenstehen sollten, wie sie in jahrhundertelanger gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur ausgeformt worden sind. Der Richter war in Europa niemals lediglich "la bouche qui prononce les paroles de la loi"; das römische Recht, das englische common law, das Gemeine Recht waren weithin richterliche Rechtsschöpfungen ebenso wie in jüngerer Zeit etwa in Frankreich die Herausbildung allgemeiner Rechtsgrundsätze des Verwaltungsrechts durch den Staatsrat oder in Deutschland das allgemeine Verwaltungsrecht, weite Teile des Arbeitsrechts oder die Sicherungsrechte im privatrechtlichen Geschäftsverkehr. Die Gemeinschaftsverträge sind auch im Lichte gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur zu verstehen. Zu meinen, dem Gerichtshof der Gemeinschaften wäre die Methode der Rechtsfortbildung verwehrt, ist angesichts dessen verfehlt. Das Bundesverfassungsgericht ist auch bislang schon ohne Aufhebens davon ausgegangen, daß der Gerichtshof subjektive Rechte des privaten Einzelnen aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen entwickeln darf (BVerfGE 37, 271; 73, 339). Wie behutsam der Gerichtshof dabei im vorliegenden Zusammenhang verfahren ist, zeigt sich daran, daß er nicht Richtlinien schlechthin "berufungsfähig" gemacht hat, sondern dafür bestimmte, oben aufgezeigte Kriterien erstellt hat, die - jedenfalls in der bisherigen Richtlinienpraxis, die Hunderte von Richtlinien allein zur Rechtsangleichung aufweist, - nur selten erfüllt sind.
      3. Der Bundesfinanzhof war mithin an die vom Finanzgericht eingeholte Vorabentscheidung des Gerichtshofs gebunden. Da es für seine Entscheidung auf die Frage, ob die Beschwerdeführerin sich auf die Sechste Umsatzsteuerrichtlinie berufen könne, ankam, hatte er die Vorabentscheidung des Gerichtshofs seiner eigenen Beurteilung zugrunde zu legen. Dem stand nicht entgegen, daß die Rechtswirkung der Berufung auf die Richtlinie von der Rechtsfolgenanordnung des deutschen Umsatzsteuergesetzes 1967/1973 abwich. Rechtsakten des Gemeinschaftsrechts kommt für den Fall eines Widerspruchs zu innerstaatlichem Gesetzesrecht auch vor deutschen Gerichten der Anwendungsvorrang zu. Dieser Anwendungsvorrang gegenüber späterem wie früherem nationalem Gesetzesrecht beruht auf einer ungeschriebenen Norm des primären Gemeinschaftsrechts, der durch die Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen in Verbindung mit Art.24 Abs.1 GG der innerstaatliche Rechtsanwendungsbefehl erteilt worden ist ... Art.24 Abs.1 GG enthält die verfassungsrechtliche Ermächtigung für die Billigung dieser Vorrangregel durch den Gesetzgeber und ihre Anwendung durch die rechtsprechende Gewalt im Einzelfall (BVerfGE 73, 339 [375] ...).
      Wollte der Bundesfinanzhof der Rechtsauffassung des Gerichtshofs gleichwohl nicht folgen, so wäre er, da die Auslegung der Sechsten Umsatzsteuerrichtlinie des Rates für ihn entscheidungserheblich war, gemäß Art.177 Abs.3 EWGV zu einer neuerlichen Vorlage an den Gerichtshof verpflichtet gewesen. In seinem Vorlagebeschluß hätte er seine Bedenken gegen die Rechtsauffassung des Gerichtshofs zur Anrufbarkeit nicht fristgerecht in innerstaatliches Recht umgesetzter Richtlinien und zumal in bezug auf die nach seiner Auffassung fehlende Kompetenz des Gerichtshofs zur Rechtsfortbildung des Vertragsrechts dartun müssen.
      4. Dieser Verpflichtung zur neuerlichen Vorlage an den Gerichtshof gemäß Art.177 Abs.3 EWGV hat sich der Bundesfinanzhof in objektiv willkürlicher Weise entzogen: Verweigert sich ein letztinstanzliches Gericht dieser Vorlagepflicht bezüglich derjenigen Rechtsfragen, die bereits Entscheidungsgegenstand einer im selben Verfahren ergangenen Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs waren, so ist das eine Verletzung des Art.101 Abs.1 Satz 2 GG, wie immer im übrigen der Maßstab der Willkür im Hinblick auf Verstöße gegen die Vorlagepflicht aus Art.177 EWGV zu fassen sein mag.