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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


820. AUSWEISUNG UND ABSCHIEBUNG

Nr.89/1

Bei der Entscheidung über die Ausweisung eines in der Bundesrepublik Deutschland wegen eines Tötungsverbrechens verurteilten Ausländers ist zu berücksichtigen, ob dieser wegen derselben Straftat in seinem Heimatland erneut verfolgt wird und die Verhängung der Todesstrafe in Betracht kommt.

When deciding on the expulsion of an alien who has been convicted of homicide in the Federal Republic of Germany the immigration office must take into account whether the alien will be prosecuted again for the same offense in his or her country and whether he or she will face the death penalty.

Oberverwaltungsgericht Lüneburg, Urteil vom 30.5.1989 (11 OVG A 556/86), InfAuslR 1989, 332 (ZaöRV 51 [1991], 198) (rechtskräftig)

Einleitung:

      Der Kläger, ein polnischer Staatsangehöriger, wurde in der Bundesrepublik Deutschland wegen Totschlags an seiner ebenfalls polnischen Freundin rechtskräftig verurteilt. Nach Aussetzung des letzten Strafdrittels zur Bewährung wurde er aus spezialpräventiven Gründen ausgewiesen. Seine dagegen gerichtete Klage wurde abgewiesen, seine Berufung hatte jedoch Erfolg.

Entscheidungsauszüge:

      Die Ausweisung ist bei Vorliegen eines der gesetzlichen Ausweisungstatbestände ... keine zwingende Rechtsfolge. Sie steht vielmehr im pflichtgemäßen Ermessen der Ausländerbehörde. Diese muß aufgrund einer Abwägung der öffentlichen Interessen mit den privaten Interessen prüfen, ob die Ausweisung geboten ist. Die Verwaltungsgerichte dürfen die Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens nur auf Rechtsfehler nachprüfen, namentlich darauf, ob die Behörde dem Zweck der Ermächtigung entsprechend und unter Beachtung der Grundrechte und der in ihnen verkörperten Wertordnung sowie des Rechtsstaatsprinzips, insbesondere des sich aus ihm herleitenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gehandelt hat ...
      Bei dieser Abwägung ist nach der Grundsatzentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts ... (BVerwGE 78, 285 f.) ... als privates Interesse auch eine zusätzliche Bestrafung des Ausländers in seinem Heimatstaat bis hin zur Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe zu berücksichtigen, wenn dafür konkrete und ernsthafte Anhaltspunkte bestehen. Das Bundesverwaltungsgericht hat hierzu u.a. ausgeführt: "... Auch wenn Ausländer grundsätzlich das Risiko für im Heimatstaat drohende Nachteile aufgrund des mit der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staat verbundenen gegenseitigen Rechte- und Pflichtenverhältnisses zu tragen haben, sind ... im Rahmen der bei einer Ausweisung gebotenen Interessenabwägung die dem Ausländer in seinem Heimatstaat drohenden Nachteile ebenfalls in den Abwägungsvorgang einzubeziehen ... Das private Interesse des Ausländers, sich nicht in einen anderen Staat begeben zu müssen, sondern im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, resultiert aus sämtlichen Nachteilen, die mit der Ausweisung verbunden sind. Für den Betroffenen geht es bei der zusätzlichen Bestrafung um den damit verbundenen Freiheitsentzug, bei einer Todesstrafe um die ihm drohende Gefahr für Leib und Leben ..."
      Nach diesen Grundsätzen, denen sich der Senat anschließt, sind die Entscheidungen der Ausländerbehörden ermessenfehlerhaft ergangen. Denn sowohl die Beklagte als auch die Widerspruchsbehörde haben in ihre Ermessensausübung nicht die Erwägung eingestellt, ob und welche Rechtsfolgen der von ihm begangene Totschlag für den Kläger haben würde, wenn er nach Polen gelangen würde. Bei dieser Ermessensunterschreitung obliegt es nach dem Grundsatzurteil des Bundesverwaltungsgerichts den Verwaltungsgerichten festzustellen, ob konkrete und ernsthafte Anhaltspunkte dafür bestehen, daß dem ausgewiesenen Ausländer in seinem Heimatland eine erneute Bestrafung hin bis zur Todesstrafe drohen würde ...
      Die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland mißbilligt die Todesstrafe und unterstützt die weltweiten Tendenzen zu ihrer Abschaffung. Die in Art.102 GG zum Ausdruck gekommene rechtliche Einstellung zur Todesstrafe wirkt auf das Gewicht des öffentlichen Interesses ein und verstärkt zugleich das Gewicht des gegenüberstehenden privaten Interesses.