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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1112. EINZELNORMEN DER EMRK

Art.6 Abs.1 Satz 1 EMRK (Verfahrensdauer)

Nr.89/1

Eine überlange Verfahrensdauer im Sinne von Art.6 Abs.1 Satz 1 EMRK eröffnet die Möglichkeit zur Einstellung des Strafverfahrens gemäß §153 Abs.2 StPO.

If a violation of the right to a speedy trial under Art.6 (1) clause 1 ECHR occurs, the criminal proceedings can be discontinued according to Sec.153 (2) of the Code of Criminal Procedure.

Bundesgerichtshof, Beschluß vom 3.11.1989 (2 StR 646/88), NJW 1990, 1000 (ZaöRV 51 [1991], 214)

Entscheidungsauszüge:

      Erweist sich der Anklagevorwurf [Beihilfe zur Untreue bei Devisentermingeschäften] als berechtigt, dann hat der Angeklagte durch die Tat nicht nur geringe Schuld auf sich geladen. Es war jedoch vor allem zu berücksichtigen, daß seit der Tat mehr als sechzehn Jahre und seit Anklageerhebung mehr als zwölf Jahre vergangen sind. Der Angeklagte befand sich in den Jahren 1976 und 1977 für ein Jahr und vier Monate in Untersuchungshaft. Die erste Hauptverhandlung dauerte vier Jahre (von 1979 bis 1983), die zweite, die nach Aufhebung des Urteils durch den Senat erforderlich geworden war, weitere acht Monate. Der Angeklagte hat die zivilrechtlichen Ansprüche, die im Zusammenhang mit den ihm hier angelasteten Handlungen geltend gemacht wurden, erfüllt. Das Landgericht hat dazu festgestellt, er habe den der H-Bank entstandenen Schaden vollständig ausgeglichen.
      Mit seiner neuen Revision macht der Angeklagte unter anderem einen wesentlichen Verfahrensfehler geltend; ein Abschluß des Verfahrens im Wege eines Freispruchs durch den Senat kommt nach der Sach- und Rechtslage nicht in Betracht. Bei einer Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Landgericht wäre wegen der Beweislage mit einer weiteren wesentlichen Verzögerung des Verfahrensabschlusses zu rechnen. Unter diesen Umständen rückte im Hinblick auf Art.6 Abs.1 Satz 1 MRK die Frage ins Blickfeld, ob die ungewöhnlich lange Verfahrensdauer, die der Angeklagte nicht zu vertreten hat, zu einem besonderen Verfahrenshindernis führt, das die Einstellung des Verfahrens gebietet.
      Der BGH hat ein solches Verfahrenshindernis, das die Strafprozeßordnung nicht vorsieht, bisher verneint und dabei betont, daß das Verfahrensrecht andere Möglichkeiten biete, um derartige Fälle zu einem gerechten Abschluß zu bringen. Dabei wurde vor allem auch auf die Möglichkeit einer Einstellung des Verfahrens nach §153 Abs.2 StPO hingewiesen ... Der Senat hat von der Möglichkeit der Einstellung des Verfahrens in Anwendung von §153 Abs.2 StPO Gebrauch gemacht.
      Für die Beantwortung der Frage, ob das dem Angeklagten möglicherweise anzulastende Verschulden i.S. von §153 Abs.2 StPO gering ist, darf nicht allein auf dessen Gewicht im Zeitpunkt der Tatbegehung abgestellt werden. Es ist vielmehr zu prüfen, welche Strafe auch im Hinblick auf die lange Verfahrensdauer, die Tatsache, daß der Angeklagte jahrelang unter dem Druck des Verfahrens stand, sich in Untersuchungshaft befand und den Schaden wieder gut gemacht hat, bei Abschluß des Verfahrens einen gerechten Schuldausgleich herbeiführen würde ...
      In einem Ausnahmefall wie dem hier vorliegenden gebot nunmehr das öffentliche Interesse einen raschen Abschluß des Verfahrens, durch den deutlich gemacht wird, daß die dem Angeklagten möglicherweise anzulastende Schuld durch die ihn belastenden Folgen des Verfahrens bereits weitgehend ausgeglichen wird. Zu diesem Ausgleich trägt hier neben der langen Verfahrensdauer auch die erlittene Untersuchungshaft bei, für die der Angeklagten nicht entschädigt wird. Außerdem treffen ihn erhebliche Kosten seiner Verteidigung. Die Versagung einer Entschädigung für erlittene Untersuchungshaft war hier ungeachtet des vom Angeklagten ausgesprochenen Verzichts geboten.