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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1000. AUSLIEFERUNG UND SONSTIGE INTERNATIONALE RECHTSHILFE

Nr.91/1

Die Auslieferung zur Vollstreckung eines in Abwesenheit des Betroffenen ergangenen ausländischen Strafurteils verstößt weder gegen das Grundgesetz noch gegen den völkerrechtlichen Mindeststandard, wenn der Betroffene von dem Verfahren in Kenntnis gesetzt worden ist und von einem Pflichtverteidiger unter Beachtung rechtsstaatlicher Mindestanforderungen verteidigt werden konnte.

The extradition of a person for the purpose of executing a sentence imposed in absentia violates neither the Basic Law nor the international minimum standard, if the person was notified of the proceedings and represented by a court-appointed defense counsel in accordance with minimum standards of procedural fairness.

Bundesverfassungsgericht (3.Kammer des Zweiten Senats), Beschluß vom 24.1.1991 (2 BvR 1704/90), NJW 1991, 1411 (ZaöRV 53 [1993], 409)

Einleitung:

      Beschwerdeführer ist ein Franzose, der in der Schweiz in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Unter Berufung auf Art.25 GG wendet er sich gegen eine Entscheidung des Oberlandesgerichts, die seine Auslieferung zur Strafvollstreckung für zulässig erklärt hat. Seine Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen, da sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg habe.

Entscheidungsauszüge:

      Nach deutschem Verfassungsrecht gehört es zu den elementaren Anforderungen des Rechtsstaats, die insbesondere im Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs vor Gericht (Art.103 Abs.1 GG) Ausprägung gefunden haben, daß niemand zum bloßen Gegenstand eines ihn betreffenden staatlichen Verfahrens gemacht werden darf; auch die Menschenwürde des einzelnen (Art.1 Abs.1 GG) wäre durch ein solches staatliches Handeln verletzt ... Daraus ergibt sich insbesondere für das Strafverfahren, das zu den schwersten in allen Rechtsordnungen überhaupt vorgesehenen Eingriffen in die persönliche Freiheit des einzelnen führen kann, das zwingende Gebot, daß der Beschuldigte im Rahmen der von der Verfahrensordnung aufgestellten, angemessenen Regeln die Möglichkeit haben und auch tatsächlich ausüben können muß, auf das Verfahren einzuwirken, sich persönlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern, entlastende Umstände vorzutragen, deren umfassende und erschöpfende Nachprüfung und ggf. auch Berücksichtigung zu erreichen ...
      Der wesentliche Kern dieser Gewährleistungen gehört von Verfassungs wegen zum unverzichtbaren Bestand der deutschen öffentlichen Ordnung, wie auch zum völkerrechtlichen Mindeststandard, der über Art.25 GG einen Bestandteil des in der Bundesrepublik Deutschland innerstaatlich geltenden Rechts bildet (vgl. BVerfGE 59, 280, 283 ff.; 63, 332, 338).
      Der einschlägigen völkerrechtlichen Praxis ist indessen nicht zu entnehmen, daß die Durchführung strafrechtlicher Abwesenheitsverfahren auch in Fällen gegen den völkerrechtlichen Mindeststandard verstieße, in denen der Betroffene von dem gegen ihn anhängigen Verfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, sich ihm durch Flucht entzogen hat und im Verfahren von einem ordnungsgemäß bestellten Pflichtverteidiger unter Beachtung rechtsstaatlicher Mindestanforderungen verteidigt werden konnte (... Entscheidung des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen vom 25.3.1983 im Fall Mbenge gegen Zaire, EuGRZ 1983, 406 f.; ferner EGMR, Urteil vom 12.2.1985 im Fall Colozza gegen Italien, EuGRZ 1985, 631 ...).
      Eine Auslieferung zur Vollstreckung eines ausländischen, in Abwesenheit des Verfolgten ergangenen Strafurteils ist bei Anlegung dieser Maßstäbe von Verfassungs wegen unzulässig, sofern der Verfolgte weder über die Tatsache der Durchführung und des Abschlusses des betreffenden Verfahrens in irgendeiner Weise unterrichtet war, noch ihm eine tatsächlich wirksame Möglichkeit eröffnet ist, sich nach Erlangung dieser Kenntnis nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und sich wirksam zu verteidigen ...
      Die Kammer kann nicht feststellen, daß das Oberlandesgericht den vorgenannten verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine zulässige Auslieferung nicht hinreichend Rechnung getragen hat. Nach den vom Beschwerdeführer vorgelegten Unterlagen ist er von dem gegen ihn anhängigen Verfahren in Kenntnis gesetzt worden und hatte auch ausreichend Möglichkeit zur Verteidigung ...