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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1112. EINZELNORMEN DER EMRK

Art.6 Abs.1 Satz 1 EMRK (Verfahrensdauer)

Nr.87/2

Im Falle einer willkürlichen und schwerwiegenden Verletzung des Beschleunigungsgebots, die durch eine Strafmilderung nicht ausgeglichen werden kann, ist ausnahmsweise die Einstellung des Verfahrens geboten.

In a case of arbitrary and serious violation of the right to a speedy trial which cannot be redressed by a mitigation of sentence, the proceedings must as an exception be discontinued.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 9.12.1987 (3 StR 104/87), BGHSt 35, 137 (ZaöRV 50 [1990], 113)

Einleitung:

      Das Landgericht hatte die Angeklagten 1981 zu Geld- und Freiheitsstrafen verurteilt. Dagegen hatten diese Revisionen rechtzeitig eingelegt, doch waren die Akten dem Bundesgerichtshof aus ungeklärtem Grund erst 1987 zur Entscheidung vorgelegt worden. Der Bundesgerichtshof stellte das Verfahren ein.

Entscheidungsauszüge:

      Als Verfahrenshindernis kommen nur Umstände in Betracht, die so schwer wiegen, daß von ihrem Nichtvorhandensein die Zulässigkeit des Verfahrens im ganzen abhängig gemacht werden muß ... Der Verletzung des Beschleunigungsgebots kommt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine solche Wirkung nicht zu (BGHSt 21, 81; 24, 239 ... StV 1983, 502). [Dies gilt jedenfalls für die Fälle], in denen der Tatrichter dem Zeitablauf bei der Strafzumessung, durch Absehen von Strafe oder sonst durch Anwendung und Auslegung des Straf- und Strafverfahrensrechts in angemessener Weise Rechnung tragen kann ...
      Ein solcher Ausgleich durch Strafmilderung kam hier aber aus folgenden Gründen nicht in Betracht: Bei der Bestimmung der angemessenen Dauer des Verfahrens (Art.6 Abs.1 Satz 1 EMRK) ist auf die gesamte Dauer des Verfahrens bis zum voraussichtlichen Verfahrensabschluß Bedacht zu nehmen ... Da die tatrichterlichen Feststellungen unzureichend sind, ... wäre eine neue Verhandlung auch zum Schuldspruch erforderlich. Diese würde voraussichtlich erst nach Jahren zu einem endgültigen Abschluß des Verfahrens führen, wobei der Ausgang des Prozesses - Verurteilung oder Freispruch - wegen der schwierigen noch zu klärenden ... materiellrechtlichen und tatsächlichen Fragen ungewiß wäre. Der Senat mußte daher im Hinblick auf die aufgezeigte rechtsstaatswidrige Verfahrensbehandlung zu einer Entscheidung finden, die eine Verfahrensbeendigung in einer insgesamt rechtsstaatlich noch hinnehmbaren Frist ermöglicht und sicherstellt.
      Als solche Lösungsmöglichkeit schied eine Einstellung des Verfahrens nach §153a StPO aus. Die Einstellung nach Erfüllung von Auflagen durch die Angeklagten wäre nur durch den Tatrichter und mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und der Angeklagten möglich. Der Senat hält es nicht für vertretbar, die vom Landgericht ... unmittelbar und der örtlichen Staatsanwaltschaft mittelbar zu vertretende willkürliche und schwerwiegende Verletzung des Beschleunigungsgebots zum Anlaß zu nehmen, die Angeklagten der Zwangslage auszusetzen, entweder die Bedingungen der Staatsanwaltschaft hinsichtlich Art und Umfang der Auflagen zu akzeptieren oder eine unabsehbare weitere Verlängerung des Verfahrens mit ungewissem Ausgang hinzunehmen. Da die Angeklagten bei einer neuen Hauptverhandlung auch mit einem Freispruch rechnen können, darf ihnen die Aussicht auf einen günstigen Ausgang des Verfahrens nicht dadurch genommen werden, daß ihnen unter dem Druck weiterer insgesamt unangemessener Verfahrensdauer die Übernahme belastender Auflagen gleichsam abgenötigt wird.
      Es kam daher lediglich eine Einstellung nach §153 StPO ohne zusätzliche Auflagen in Betracht. Denn das öffentliche Interesse an der Wahrnehmung der ohnehin nur geringen Wahrscheinlichkeit, den Sachverhalt im Sinne einer Verurteilungsreife aufklären zu können, ist weggefallen, weil die in erster Linie vom Landgericht zu vertretende jahrelange Verfahrensverzögerung im Ergebnis darauf hinauslief, die Überprüfung des Urteils durch das Revisionsgericht innerhalb zumutbarer Zeit zu verhindern. Die Schuld der Angeklagten wäre, falls sie überhaupt in einem neuen Verfahren zu beweisen wäre, gering im Sinne des §153 StPO. ... Dieser Beurteilung hat sich jedoch die Staatsanwaltschaft verschlossen und die in §153 StPO vorgesehene Zustimmung verweigert.
      Die aufgezeigten verfahrensrechtlichen und materiellrechtlichen Besonderheiten des Falls ließen daher als rechtsstaatlich gebotene Folgerung aus dem - nach Verweigerung der Zustimmung zur Einstellung nach §153 StPO - irreparablen Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot nur den gerichtlich anzuordnenden Abbruch des Verfahrens zu.