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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


475. VERANTWORTLICHKEIT VON EINZELPERSONEN

Nr.91/2

[a] Es bleibt offen, ob die gegen einen anderen Staat betriebene Spionage völkerrechtswidrig ist. Das Völkerrecht verbietet einem Staat jedenfalls nicht, die gegen ihn gerichtete Spionage von Ausländern unter Strafe zu stellen, auch wenn er selbst Spionage betreibt.

[b] Völkerrechtliche Immunität in personaler und funktionaler Hinsicht (act of state-Doktrin) gilt nicht für Spionage.

[c] Eine entsprechende Anwendung des Art.31 der Haager Landkriegsordnung auf die Friedensspionage kommt wegen der grundlegenden Verschiedenheit der Sachverhalte nicht in Betracht.

[a] The question remains open whether public international law prohibits a state from engaging in espionage against another state. In any event, public international law does not prohibit a state from punishing aliens for espionage directed against it even if this state itself engages in espionage.

[b] Public international law rules concerning personal or functional immunity (act of state doctrine) do not extend to espionage.

[c] Art.31 of the Hague Rules on Land Warfare cannot be applied by analogy to peace-time espionage, in view of the fundamental difference of situations.

Bundesgerichtshof, Beschluß vom 29.5.1991 (3 StE 4/91-StB 11/91, NStZ 1991, 429 (ZaöRV 53 [1993], 371)

Einleitung:

      Der Beschuldigte war lange für das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR tätig und dabei vor allem für nachrichtendienstliche Aktionen gegen die Bundesrepublik Deutschland zuständig. Sein Antrag, den gegen ihn wegen des dringenden Verdachts der Beihilfe zum Landesverrat (§§94 Abs.1 Nr.1, 27 StGB) erlassenen Haftbefehl außer Vollzug zu setzen, wurde vom Bayerischen Obersten Landesgericht abgelehnt. Seine Haftbeschwerde blieb ohne Erfolg.

Entscheidungsauszüge:

      I. ... Die Strafbarkeit nach §94 Abs.1 Nr.1 StGB (in Verbindung mit §27 StGB) war zur Tatzeit begründet; sie ist durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nicht entfallen. Die Strafverfolgung verstößt auch nicht gegen allgemeine, in innerstaatliches Recht übernommene Regeln des Völkerrechts (Art.25 GG) oder gegen (sonstiges) Verfassungsrecht. ...
      1. a) Die Anwendbarkeit des §94 StGB ergab sich nach dem Rechtszustand vor dem Beitritt der DDR schon auf Grund der §§3, 9 StGB, weil der Tatort (auch) innerhalb der Bundesrepublik lag ...
      b) Allgemeine Regeln des Völkerrechts im Sinne des Art.25 GG standen (und stehen) der Anwendung der Vorschriften des StGB auf das Verhalten des Angeklagten nicht entgegen. Dabei läßt der Senat offen, ob diese völkerrechtlichen Normen im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der DDR wegen der Besonderheit der Rechtsbeziehungen nur begrenzte Gültigkeit hatten oder ob sie jedenfalls nach Abschluß des sog. Grundlagenvertrags (Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 21.12.1972, BGBl.1973 II, 421, 423) in dem hier wesentlichen Bereich uneingeschränkt wirksam waren (vgl. zur Völkerrechtssubjektivität der DDR BVerfGE 36, 1, 22).
      Selbst bei voller Geltung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts läßt sich daraus ein zugunsten des Angeklagten wirkender Ausschluß der Anwendung des §94 StGB nicht ableiten. Dazu bedarf es keiner abschließenden Stellungnahme zu der im völkerrechtlichen Schrifttum nicht eindeutig geklärten Frage, ob das völkerrechtliche Gewohnheitsrecht lediglich die Aussage zuläßt, daß Spionage in Friedenszeiten kein völkerrechtliches Unrecht darstellt, oder ob darüber hinaus auch festgestellt werden kann, daß sie völkerrechtlich erlaubt, "legal" ist ... Entscheidend für die Frage der Rechtsanwendung ist vielmehr allein, daß es einem Staat nach gemeinsamer Rechtsüberzeugung der Staatengemeinschaft völkerrechtlich nicht untersagt ist, die gegen ihn gerichtete Spionage in Verwirklichung des sog. Schutzprinzips auch dann innerstaatlich unter Strafe zu stellen, wenn sie von Ausländern im Ausland begangen ist ...
      Gegen die Anwendbarkeit des §94 StGB auf das Verhalten des Angeklagten können völkerrechtliche Bedenken um so weniger erhoben werden, als es zur Rechtfertigung der Rechtsanwendung des Schutzprinzips ohnehin nicht bedarf, ihre Zulässigkeit vielmehr ... bereits aus dem Territorialitätsgrundsatz folgt ... Unter dem Gesichtspunkt des völkerrechtlichen Interventionsverbots im Sinne einer Mißachtung der staatlichen Souveränität der ehemaligen DDR ist die Rechtsanwendung jedenfalls deshalb nicht fraglich, weil sich das dem Angeklagten zur Last gelegte Verhalten in Ausübung und Wirkung keineswegs auf das Gebiet der DDR beschränkte. Im Sinne dringenden Tatverdachts ist nämlich nicht nur davon auszugehen, daß die Tätigkeit des Angeklagten als tatbestandlich erhebliche Auswirkung eine sich im Inland verwirklichende Gefährdung der äußeren Sicherheit gegenüber der DDR zur Folge hatte, sondern es sprechen auch dringende Gründe dafür, daß die Unterlagen, die auf Grund vorläufiger Beurteilung als Staatsgeheimnisse gewertet werden können ..., unter maßgeblicher Beteiligung des Angeklagten auch dem KGB der Sowjetunion zugeleitet wurden, so daß auch gegenüber dieser fremden Macht eine Sicherheitsgefährdung eintrat. Zudem wurde der Angeklagte ... wiederholt außerhalb der DDR (in Österreich, Jugoslawien und Ungarn) tätig. Schließlich stattete das Ministerium für Staatssicherheit ... [Agenten] zur Abdeckung ihrer landesverräterischen Tätigkeit wiederholt mit gefälschten Reisepässen der Bundesrepublik aus und traf damit Maßnahmen, die ihrerseits rechtswidrige Eingriffe in die Souveränität der Bundesrepublik bedeuteten.
      Völkerrechtliche Immunität in personaler und funktionaler Hinsicht (sog. Act of State-Doktrin), die grundsätzlich nur für Staatsoberhäupter ... gilt, unter besonderen Voraussetzungen aber auch für amtliches Handeln anderer Organe eines fremden Staates in Betracht kommen kann ..., konnte der Angeklagte schon vor dem Beitritt der DDR aus seiner amtlichen Stellung und dienstlichen Tätigkeit nicht ableiten. Denn diese völkerrechtliche Regel gilt nach allgemeiner Meinung nicht für Spionage ...
      d) Zureichende Anhaltspunkte für Rechtfertigungsgründe oder Entschuldigungsgründe sind bisher ... nicht hervorgetreten.
      aa) Aus den allgemeinen Regeln des Völkerrechts (Art.25 GG) läßt sich nach dem bis jetzt ermittelten Sachverhalt eine innerstaatlich zugunsten des Angeklagten wirkende Rechtfertigung nicht ableiten ... Dies gilt selbst unter der Voraussetzung, daß Spionage in Friedenszeiten als völkerrechtlich legale Handlung beurteilt wird. Soll der nach dem Völkerrecht unbedenklichen Befugnis, die gegen den eigenen Staat gerichtete Spionage durch Ausländer unter Strafe zu stellen, ihre praktische Bedeutung nicht weitgehend genommen werden, muß die Regel des Völkerrechts, wonach die Staaten im Hinblick auf das Strafrecht frei sind, ihre nationalen Schutzbestimmungen anzuwenden, als Spezialregelung beurteilt werden, die dem allgemeinen Grundsatz (seine völkerrechtliche Anerkennung hier unterstellt), Spionage sei legal, bei Anwendung des innerstaatlichen Strafrechts vorgeht ...
      Unter dem Gesichtspunkt des einem Staat völkerrechtlich - allerdings nicht uneingeschränkt - zuzuerkennenden Rechts auf Selbstverteidigung (Selbsthilfe ...) haben sich zureichende Anhaltspunkte für eine zugunsten des Angeklagten eingreifende Rechtfertigung (oder Entschuldigung) ebenfalls nicht ergeben. Die Gegenseitigkeit der Spionage, die von fast allen Staaten gegeneinander betrieben wird ("tu quoque"), schließt es schon aus, daß in diesem Bereich ein innerstaatlich zugunsten des einzelnen Agenten wirkender Rechtfertigungsgrund aus dem völkerrechtlichen Grundsatz der erlaubten Selbsthilfe oder Selbstverteidigung hergeleitet wird. Die Tätigkeit der Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit und auch ihrer vom Angeklagten geleiteten Abteilungen hat sich nach den bisher vorliegenden Erkenntnissen, wie u.a. auch die Weitergabe von nachrichtendienstlichen Erkenntnissen an den KGB der Sowjetunion zeigt, ohnehin nicht auf bloße Abwehrmaßnahmen gegen die auf die DDR bezogene Aufklärung durch bundesdeutsche Nachrichtendienste beschränkt. Objektiv gesehen ist von der Bundesrepublik zudem keine Gefährdung der DDR ausgegangen, selbst die Aufklärungstätigkeit der Nachrichtendienste der Bundesrepublik im Ausland diente und dient letztlich dem Schutz dieses Staates. Gründe für die Annahme, der Angeklagte sei insoweit einem den Vorsatz ausschließenden Irrtum oder einem unvermeidbaren Verbotsirrtum unterlegen, bestehen angesichts der herausgehobenen Stellung des Angeklagten, seiner Bildung und seines Kenntnisstands nach dem vorliegenden Ermittlungsergebnis nicht.
      2. Durch den staatsvertraglich vorbereiteten und geregelten Beitritt der DDR zur Bundesrepublik ist in der Strafbarkeit und Verfolgbarkeit des dem Angeklagten zur Last gelegten Verhaltens, wie sich aus den Bestimmungen des ... Einigungsvertrages ... [vom 31.8.1990, BGBl.II S.885] und auch aus Art.315 Abs.4 EGStGB entnehmen läßt, keine Änderung eingetreten ... Unter den einzelnen Vorschriften des StGB, die auf dem Gebiet der ehemaligen DDR keine Anwendung finden, sind die Strafnormen des Landesverrats und der Gefährdung der äußeren Sicherheit ... gerade nicht genannt (vgl. Anlage I zum Einigungsvertrag, Kap.III Sachgebiet C Abschnitt III Nr.1). Anhaltspunkte dafür, daß dies versehentlich geschehen sei, bestehen nicht. Vielmehr ist davon auszugehen, daß insoweit von den vertragsschließenden Staaten und in Umsetzung in innerstaatliches Recht von dem Gesetzgeber eine bewußte Entscheidung getroffen worden ist. Sie verstößt nicht gegen höherrangiges Recht.
      a) Weder im Völkervertragsrecht noch im völkerrechtlichen Gewohnheitsrecht finden sich nach Art.25 GG zu beachtende Normen, welche im Falle der freiwilligen, vertraglich geregelten Eingliederung eines Staates in einen anderen die strafrechtliche Verfolgung von Tätern ausschlössen, die sich im Auftrag des eingegliederten Staates zum Nachteil des aufnehmenden Staates im Sinne des Landesverrats und der Gefährdung der äußeren Sicherheit der Spionage schuldig gemacht haben und im eingegliederten Gebiet ergriffen werden. Dies hat der Bundesgerichtshof im Beschluß vom 31.1.1991 ... [Nr.475 (91/1)] im einzelnen zutreffend dargelegt; der Senat schließt sich diesen Ausführungen an. Insoweit handelt es sich um Fragen des Innenverhältnisses zwischen dem aufnehmenden und dem beitretenden Staat, die deren vertraglicher Disposition unterliegen ... Nach den Regelungen des Einigungsvertrags kann nicht angenommen werden, daß auf die Bundesrepublik im Wege der Rechtsnachfolge Pflichten der DDR aus dem früheren Dienstverhältnis zu den im Bereich der Spionage operativ tätigen Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit übergegangen sind, aus denen die Verpflichtung abgeleitet werden könnte, die Strafverfolgung wegen der Tätigkeiten zu unterlassen, die den früher geltenden Dienstpflichten nach dem Recht der DDR gerade entsprachen ...
      Eine entsprechende Anwendung von Art.31 der Haager Landkriegsordnung vom 18.10.1907 (RGBl.1910, 107), einer dem Kriegsvölkerrecht zuzurechnenden Norm, die bestimmt, daß ein Spion, der zu dem Heer, dem er angehört, zurückgekehrt ist und später vom Feind gefangen genommen wird, als Kriegsgefangener zu behandeln ist und für die früher begangene Spionage nicht verantwortlich gemacht werden kann, ist wegen der grundlegenden Verschiedenheit der in Frage stehenden Sachverhalte nicht möglich ...
      b) Die Strafverfolgung nach dem Beitritt der DDR verletzt den Angeklagten auch nicht in seinen Grundrechten und verstößt auch sonst nicht gegen Verfassungsrecht.
      Eine willkürliche Ungleichbehandlung und damit ein Verstoß gegen Art.3 Abs.1 GG liegt nicht darin, daß Angehörige der Nachrichtendienste der ehemaligen DDR nunmehr in Realisierung ihrer von Anfang an begründeten Strafbarkeit nach den Vorschriften des StGB über Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit dem Zugriff der Strafverfolgungsbehörden ausgesetzt sind, während eine Strafverfolgung der Mitarbeiter der Nachrichtendienste der Bundesrepublik nach den entsprechenden Strafbestimmungen der DDR ... offensichtlich ausscheidet. Dieses Ergebnis ist eine Folge der rechtlichen Ausgestaltung der "Wiedervereinigung Deutschlands" und bedeutet nur scheinbar eine Ungleichbehandlung. Nur bei ausschließlich formaler Betrachtung lassen sich die Tätigkeiten der Nachrichtendienste der Bundesrepublik und der früheren DDR einander gleichsetzen, nicht aber vom legitimen Standpunkt der ihrer Identität nach fortbestehenden Bundesrepublik aus. Der entscheidende Unterschied liegt darin, daß die Nachrichtendienste der Bundesrepublik, auch wenn sie operativ Auslandsaufklärung betreiben, letztlich zu deren Schutz tätig wurden und werden, während die gegen die Bundesrepublik gerichtete Tätigkeit der Nachrichtendienste der DDR zur konkreten oder doch abstrakten Gefährdung der äußeren Sicherheit dieses Staates führte mit unter Umständen bis in die Gegenwart reichenden, im einzelnen jedoch nicht genau faßbaren und abschätzbaren Folgen, die sich aus der Weitergabe von nachrichtendienstlichen Informationen und Informanten an andere Staaten des früheren "Ostblocks" ergeben können. Ein aus Art.3 Abs.1 GG abgeleitetes Strafverfolgungsverbot würde im Ergebnis zu einer weitgehend undifferenzierten Freistellung der nachrichtendienstlich tätigen, hauptamtlichen Mitarbeiter der Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit von jeder Strafverfolgung führen und wäre gerade wegen dieser Undifferenziertheit im Hinblick auf mögliche fortwirkende Folgen für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik durchgreifenden Bedenken ausgesetzt.

Hinweis:

      Ähnlich Bayerisches Oberstes Landesgericht, Urteil vom 15.11.1991 (3 St 1/91 a-d), NStZ 1992, 281 ff. Teilweise abweichend jetzt Bundesverfassungsgericht, Beschluß vom 15.5.1995 (2 BvL 19/91 u.a.), BVerfGE 92, 277. Vgl. auch den dieser Entscheidung zugrunde liegenden Vorlagebeschluß des Kammergerichts vom 22.7.1991, ([1] 3 StE 9/91-4-[13/91]), NJW 1991, 2501 ff.