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Tätigkeitsbericht für das Jahr 2000


II. Forschungsvorhaben

G. Verfassungsvergleichung

1. Auswirkungen der Globalisierung auf das Verfassungsrecht und sein Verhältnis zum Völkerrecht

Das Projekt „Auswirkungen der Globalisierung auf das Verfassungsrecht und sein Verhältnis zum Völkerrecht“, das am Institut maßgeblich von Dr. Walter betreut wird, untersucht unter der allgemeinen Fragestellung nach den Auswirkungen der Globalisierung auf das Verfassungs- und Völkerrecht einzelne Bereiche, in denen Veränderungen besonders deutlich sichtbar werden. Ausgangspunkt ist die Überlegung, daß die mit der Globalisierung verbundene Verlagerung der Lösung von Sachproblemen von der nationalen Ebene auf internationale Verhandlungsrunden Rückwirkungen auf das Verfassungsrecht, das Völkerrecht und auch auf das Zusammenwirken dieser Rechtsordnungen haben muß. Eine Internationalisierung von Sachentscheidungen ist im Bereich des Wirtschaftsrechts und der die Wirtschaft besonders berührenden Rechtsgebiete, wie etwa dem Umweltrecht, besonders deutlich zu erkennen. Sie betrifft aber auch, wenn man etwa an den NATO-Einsatz in der Kosovo-Krise denkt, bislang zentral der staatlichen Souveränität zugeordnete Entscheidungen wie diejenige über den Kampfeinsatz der nationalen Streitkräfte. Je bedeutsamer die dabei zu entscheidenden Sachfragen sind, und je geringer der anschließend dem einzelnen Staat noch verbleibende Handlungsspielraum ist, desto deutlicher treten die verfassungsrechtlichen Konsequenzen dieser Entwicklung hervor: das politische Entscheidungszentrum verläßt den nationalen Verfassungsraum und wird in internationale Verhandlungsgremien verschoben, die anders als der Nationalstaat keine umfassende Zuständigkeit beanspruchen, sondern nur für einzelne Sachmaterien - also sektoral begrenzt - tätig werden.

Diese Entwicklung kann nicht ohne Rückwirkungen auf das nationale Verfassungsrecht bleiben. Eine der Leistungen des nationalen Verfassungsstaats liegt in der von ihm bewirkten „Bündelung der Verfassungsfunktionen“. Der Verfassungsstaat vereint politisches Entscheidungszentrum (Regierung und Parlament) und umsetzende Hoheitsgewalt (Regierung und Verwaltung) zu einer Handlungs- und Entscheidungseinheit (dem Staat). Er gründet sich dabei auf eine auch außerrechtliche Verbundenheit seiner Bürger (den „nichtnormierten Unterbau der Staatsverfassung“ im Sinne H. Hellers) und kann so ohne größere theoretische Schwierigkeiten eine repräsentative Demokratie errichten, in der „alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht“ (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG). Als tragender Pfeiler in diesem Gebäude ist die Verfassung in der Lage, die Begründung öffentlicher Gewalt zu legitimieren (Wahlen und Abstimmungen) und dabei die Formen ihrer Ausübung sowohl zu organisieren (Staatsorganisation, Gesetzgebung und Vollziehung) wie zu begrenzen (Grundrechte und Gewaltenteilung).

Die Internationalisierung löst die von der Verfassung bisher bewirkte Bündelung der Verfassungsfunktionen im Nationalstaat (Legitimationsfunktion, Organisationsfunktion, Begrenzungsfunktion und Integrationsfunktion) auf und ersetzt sie durch eine mehrere Rechtsordnungen umfassende (netzwerkartige) Struktur, in der die einzelnen Entscheidungsträger für bestimmte, mehr oder weniger große Sachbereiche zuständig sind: Wirtschaftssanktionen des UN-Sicherheitsrats werden auf der universellen Ebene der Vereinten Nationen beschlossen, bestimmen die regionale Rechtsordnung des Europäischen Gemeinschaftsrechts und erreichen von dort als verbindliche Rechtsverordnungen schließlich den einzelnen Mitgliedstaat; Fragen des Exports gefährlicher Abfälle werden auf der Grundlage des Basler Übereinkommens über den Export gefährlicher Abfälle entschieden, bedürfen der Umsetzung in Form einer EG-Verordnung und bestimmen so zuletzt die staatliche Rechtsanwendung. Regionale Fischereiorganisationen (etwa die Internationale Kommission für die Erhaltung der Thunfischbestände Atlantik) sind für den Schutz bestimmter Fischarten zuständig und nehmen Kontroll- und Überwachungsbefugnisse wahr, die auch die Gemeinschaft binden.

Aus juristischer Perspektive berührt diese Entwicklung in besonderer Weise das Verhältnis des nationalen Verfassungsrechts zum Völkerrecht. Die internationalisierten Entscheidungsgremien folgen den Regeln des Völkerrechts, übernehmen aber teilweise Funktionen, die herkömmlicherweise dem nationalen Verfassungsrecht zuzuordnen sind. Am deutlichsten ist dies im Bereich des internationalen Menschenrechtsschutzes erkennbar, der eine dem nationalen Grundrechtsschutz vergleichbare Begrenzungsfunktion wahrnimmt. Diese funktionale Übereinstimmung gibt Anlaß, jedenfalls ein institutionell so ausgeprägtes System wie das der Europäischen Menschenrechtskonvention als einen Konstitutionalisierungsprozeß zu begreifen, dem das deutsche Verfassungsrecht durch eine Rezeption der Gewährleistungsinhalte der EMRK, wie sie sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergeben, im Rahmen des Art. 24 Abs. 1 GG Rechnung tragen muß (so die auf dem Symposium „Grenzüberschreitende Konstitutionalisierungsprozesse“ vorgetragene These, vgl. Walter, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Konstitutionalisierungsprozeß, ZaöRV 59 (1999), 961 ff.).

Die Analyse erlaubt außerdem eine besondere Perspektive auf die Diskussion um eine „Europäische Verfassung“. Sie legt offen, daß auch ein europäischer Verfassungsstaat mit vergleichbaren Internationalisierungproblemen zu kämpfen hätte. Schon heute bestehen in einigen Bereichen (zu nennen sind wiederum das Wirtschafts- und das Umweltrecht) rechtliche Bindungen der Gemeinschaft. Hinzu kommt, daß der Gemeinschaft jedenfalls bislang ein dem Nationalstaat vergleichbarer „nicht-normierter Unterbau“ fehlt. Die Erkenntnis, daß die Europäische Union nicht nur Subjekt von Globalisierung und Internationalisierung ist, sondern zugleich auch Objekt dieser Prozesse ist, läßt es als zweifelhaft erscheinen, auf europäischer Ebene eine Bündelung der Verfassungsfunktionen nach dem Vorbild des Nationalstaats herbeizuführen. Sie spricht vielmehr dafür, daß unter den Bedingungen der Globalisierung Hoheitsgewalt nicht mehr wie bisher im Nationalstaat territorial begrenzt, aber sachlich unbeschränkt verfaßt werden kann, sondern je nach Zuständigkeit und Zusammensetzung der internationalen Verhandlungsgremien territorial variabel und sektoral begrenzt ausgeübt (werden) wird. Anstatt die nationalstaatlichen Denkmuster auf die Europäische Union zu übertragen, sollte die Gelegenheit genutzt werden, im begrenzten Kreis relativ homogener Staaten das zu erproben, was die Globalisierung ohnehin in Zukunft verlangen wird: die Entwicklung von rechtsordnungsübergreifenden verfassungsrechtlichen Strukturen in einer Welt, die Hoheitsgewalt nicht mehr umfassend im Staat konzentriert, sondern sie auf verschiedene, sachlich nur begrenzt zuständige Hoheitsträger verteilt (so die Überlegungen in: Walter, Die Folgen der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion, DVBl. 2000, 1 ff.).

Die beschriebene Entwicklung hat schließlich auch Rückwirkungen auf das Verhältnis von Völkerrecht und nationalem öffentlichen Recht. Das Völkerrecht wird bislang vornehmlich als eine durch Staaten konstituierte Rechtsordnung verstanden. Der „international paktierende Staat“ verzahnt durch Sachentscheidungen im Wege internationaler Verhandlungen das nationale öffentliche Recht mit dem Völkerrecht der internationalen Organisationen. Dabei wächst die völkerrechtliche Ebene ein Stück weit in den innerstaatlichen Bereich hinein und greift umgekehrt das Demokratieprinzip - im Gewand der Suche nach demokratischer Legitimität der internationalen Entscheidungen - nach dem Völkerrecht. Dies wirft Fragen der Völkerrechtstheorie, insbesondere diejenige nach der Rolle des Individuums im Völkerrecht, aber auch die nach dem Rangverhältnis von Völkerrecht und nationalem Recht, auf. Die bisherige staatenorientierte Konzeption des Völkerrechts, die durch die Rolle des Individuums im internationalen Menschenrechtsschutz und bei der Rechtfertigung humanitärer Interventionen ohnehin Modifikationen erfährt, dürfte so unter zusätzlichen Rechtfertigungsdruck geraten. In diese Richtung soll das Projekt in Zukunft fortgeführt werden.



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