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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


660. STAATENLOSIGKEIT

Nr.93/1

[a] Die Begriffe der "Staatenlosigkeit" in Art.1 Abs.1 des Übereinkommens vom 28.9.1954 über die Rechtsstellung der Staatenlosen und in Art.2 des Gesetzes zur Verminderung der Staatenlosigkeit vom 29. Juni 1977 (BGBl.I S.1101) sind deckungsgleich.

[b] Eine im Inland geborene minderjährige Palästinenserin kann nach Art.2 des Gesetzes zur Verminderung der Staatenlosigkeit einen Einbürgerungsanspruch haben.

[a] The terms "statelessness" in Art.1 (1) of the Convention relating to the Status of Stateless Persons of 28 September 1954 and in Art.2 of the Act to Reduce Statelessness of 29 June 1977 (Federal Law Gazette Part I p.1101) are identical.

[b] A Palestinian minor born in Germany can derive a claim to naturalization from Art.2 of the Act to Reduce Statelessness.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 23.2.1993 (1 C 45.90), BVerwGE 92, 116 (ZaöRV 55 [1995], 839 f.)

Einleitung:

      Die 1982 in der Bundesrepublik Deutschland geborene Klägerin ist Kind von Palästinensern aus dem Libanon, die sich seit 1981 in der Bundesrepublik Deutschland aufhielten. Ihr 1987 gestellter Antrag auf Einbürgerung aufgrund des Gesetzes zur Verminderung der Staatenlosigkeit wurde abgelehnt. Erst im Revisionsrechtszug sprach das Bundesverwaltungsgericht die Verpflichtung der Behörde aus, die Klägerin einzubürgern.

Entscheidungsauszüge:

      1. Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, daß Rechtsgrundlage für den von der Klägerin geltend gemachten Einbürgerungsanspruch nicht das Übereinkommen vom 30. August 1961 zur Verminderung der Staatenlosigkeit (BGBl. 1977 II S.598, 1219) - StlMindÜbk -, sondern das zu seiner Ausführung erlassene Gesetz zur Verminderung der Staatenlosigkeit vom 29. Juni 1977 (BGBl.I S.1101) - AG-StlMindÜbk - ist. Das Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der durch Zustimmungsgesetz vom 29. Juni 1977 (BGBl.II S.597) in innerstaatliches Recht transformiert worden ist. Wie der Senat wiederholt ... ausgesprochen hat, führt die Transformation eines völkerrechtlichen Vertrages durch ein Zustimmungsgesetz zur unmittelbaren Anwendbarkeit einer Vertragsnorm, wenn sie nach Wortlaut, Zweck und Inhalt geeignet und hinreichend bestimmt ist, wie eine innerstaatliche Vorschrift rechtliche Wirkung zu entfalten, also dafür keiner weiteren normativen Ausfüllung bedarf ...
      b) Diese Voraussetzungen liegen beim Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit nicht vor. Art.1 Abs.1 Satz 1 StlMindÜbk enthält den Grundsatz, daß jeder Vertragsstaat einer in seinem Hoheitsgebiet geborenen Person, die sonst staatenlos wäre, seine Staatsangehörigkeit verleiht. Nach Satz 2 erfolgt die Verleihung alternativ kraft Gesetzes oder aufgrund eines Antrages. Art.1 Abs.2 StlMindÜbk ermächtigt die Vertragsstaaten, die Verleihung der Staatsangehörigkeit von einer oder mehreren der dort genannten Voraussetzungen abhängig zu machen. Das Übereinkommen bedarf daher über die Transformation hinaus einer normativen Ausfüllung. Dementsprechend ist in der Bundesrepublik Deutschland gleichzeitig mit dem Zustimmungsgesetz das Gesetz zur Verminderung der Staatenlosigkeit erlassen worden, das im einzelnen die Voraussetzungen des Einbürgerungsanspruchs, insbesondere den begünstigten Personenkreis bestimmt. Erst dieses Gesetz bildet die Rechtsgrundlage für den Einbürgerungsanspruch. Das schließt nicht aus, bei seiner Auslegung auf das Übereinkommen zurückzugreifen, zu dessen Ausführung es erlassen worden ist ...
      2. Voraussetzung für einen Einbürgerungsauspruch nach Art.2 AG-StlMindÜbk ist zunächst, daß der Bewerber seit seiner Geburt Staatenloser ist.
      a) Nach Art.1 Satz 1 Nr.1 AG-StlMindÜbk wird das Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit angewandt auf Personen, die staatenlos nach Art.1 Abs.1 StlÜbk sind. Art.1 Abs.1 StlÜbk umschreibt den Begriff des "Staatenlosen". An diese Begriffsbestimmung knüpft Art.1 Satz 1 Nr.1 AG-StlMindÜbk an. Aus der Verweisung auf Art.1 Abs.1 StlÜbk ergibt sich mithin, daß der Einbürgerungsanspruch nach Art.2 AG-StlMindÜbk unabhängig vom Anwendungsbereich des Staatenlosen-Übereinkommens im übrigen Staatenlosen im Sinne der Begriffsbestimmung des Art.1 Abs.1 StlÜbk zusteht.
      b) "Staatenloser" im Sinne des Art.1 Abs.1 StlÜbk ist eine Person, die kein Staat aufgrund seines Rechts als Staatsangehörigen ansieht, d.h. ein De-iure-Staatenloser ..., nicht dagegen ein De-facto-Staatenloser ...
      c) Der Senat hat bisher offen gelassen, ob Palästinenser, soweit sie nicht eine andere Staatsangehörigkeit erworben haben, staatenlos im Sinne des Art.1 Abs.1 StlÜbk sind ... Dem systematischen Zusammenhang und der Entstehungsgeschichte des Staatenlosen-Übereinkommens läßt sich entnehmen, daß dieser Personenkreis staatenlos im Sinne des Art.1 Abs.1 StlÜbk ist, ohne daß es auf die Klärung der politisch und rechtlich umstrittenen Frage ankommt, ob es eine palästinensische Staatsangehörigkeit gibt ...
      aa) Das Staatenlosen-Übereinkommen enthält eine Sonderregelung für den hier in Rede stehenden Personenkreis. Nach Art.1 Abs.2 Buchst.i StlÜbk findet das Staatenlosen-Übereinkommen keine Anwendung auf Personen, denen gegenwärtig ein Organ oder eine Organisation der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen Schutz oder Beistand gewährt, solange sie diesen Schutz oder Beistand genießen. Es handelt sich dabei in erster Linie um die von der United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East - UNRWA - im Nahen Osten betreuten palästinensischen Flüchtlinge. Eine Sonderregelung für die von der UNRWA betreuten palästinensischen Flüchtlinge im Staatenlosen-Übereinkommen setzt aber voraus, daß diese Personen Staatenlose im Sinne des Art.1 Abs.1 StlÜbk sind.
      bb) Bei Abschluß des Staatenlosen-Übereinkommens haben sich die Vertragsparteien, wie sich aus Abs.3 der Präambel des Übereinkommens ergibt, von der Erwägung leiten lassen, daß nur diejenigen Staatenlosen, die gleichzeitig Flüchtlinge sind, durch die drei Jahre zuvor vereinbarte Genfer Konvention erfaßt werden und daß diese Konvention auf zahlreiche Staatenlose nicht anwendbar ist. Aus diesem Grunde haben sie im Staatenlosen-Übereinkommen den Staatenlosen weitgehend dieselben Vergünstigungen gewährt wie zuvor die Genfer Konvention den Flüchtlingen. Ebenso haben sie in das Staatenlosen-Übereinkommen eine mit der Sonderregelung in Art.1 D inhaltlich übereinstimmende ... Bestimmung aufgenommen, die vornehmlich die durch die UNRWA geschützten palästinensischen Flüchtlinge betrifft. Einer solchen Bestimmung hätte es nicht bedurft, wenn die Palästinenser nicht Staatenlose im Sinne des Art.1 Abs.1 StlÜbk wären. Mit dieser Sonderregelung ist zugleich einer politischen Auseinandersetzung um das Bestehen oder Nichtbestehen einer palästinensischen Staatsangehörigkeit vorgebeugt worden, so wie mit der übereinstimmenden Sonderregelung in der Genfer Konvention eine Kontroverse über die Flüchtlingseigenschaft der Palästinenser vermieden wurde. Bei dieser Personengruppe ging und geht es in erster Linie nicht um Statusfragen, sondern um materielle Unterstützung, die der UNRWA obliegen sollte.
      cc) Sind Palästinenser Staatenlose im Sinne des Art.1 Abs.1 StlÜbk, so ist auch Art.2 AG-StlMindÜbk auf sie anwendbar. ... Art.1 Abs.1 AG-StlMindÜbk stellt allgemein nicht auf den Anwendungsbereich des Staatenlosen-Übereinkommens, sondern auf die Staatenlosigkeit im Sinne des Art.1 Abs.1 StlÜbk ab. Eine ausufernde, über die gewollten völkervertraglichen Bindungen hinausgehende Einbürgerung des hier in Rede stehenden Personenkreises wird dadurch ausgeschlossen, daß Art.2 AG-StlMindÜbk die Einbürgerung an andere und gegenüber den Anspruchsgrundlagen im Staatenlosen-Übereinkommen engere Voraussetzungen knüpft, deren Begründung zum Teil auch von dem Verhalten des jeweiligen Vertragsstaates abhängt.
      3. Der Einbürgerungsbewerber muß nach Art.2 Satz 1 AG-StlMindÜbk seit seiner Geburt staatenlos und in Deutschland, an Bord eines deutschen Schiffes oder in einem deutschen Luftfahrzeug geboren sein. Er muß den Antrag vor Vollendung seines 21. Lebensjahres gestellt haben. Er darf nicht zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von fünf Jahren oder mehr verurteilt worden sein. Schließlich muß er seit fünf Jahren rechtmäßig seinen dauernden Aufenthalt im Geltungsbereich des Gesetzes haben.
      a) Für einen rechtmäßig dauernden Aufenthalt ist es ... nicht erforderlich, daß der Aufenthalt mit Willen der Ausländerbehörde auf grundsätzlich unbeschränkte Zeit angelegt ist und sich zu einer voraussichtlich dauernden Niederlassung verfestigt hat. ... Jedenfalls verbieten Sinn und Zweck des Übereinkommens zur Verminderung der Staatenlosigkeit, aus dem Erfordernis des dauernden Aufenthalts abzuleiten, daß - wie bei der Einbürgerung nach §8 RuStAG - eine Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse vorliegen muß, die in der Regel erst nach einem langfristigen Einleben in die deutsche Umwelt eintritt ... Es geht im vorliegenden Fall allein darum, aufgrund besonderer völkerrechtlicher Verpflichtungen einen Beitrag zur Verminderung der Staatenlosigkeit durch Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit an Staatenlose zu leisten, ohne daß diese die allgemeinen Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllt haben, insbesondere praktisch zu Inländern geworden sein müssen. Das gilt namentlich für solche Staatenlose, die wie die Palästinenser einer bestimmten Volksgruppe zugeordnet sind und diese Bindung möglicherweise weder aufgeben wollen noch können. Ein Rückgriff auf die allgemeinen Einbürgerungsvoraussetzungen wird daher dem besonderen mit Art.2 AG-StlMindÜbk verfolgten Anliegen nicht gerecht. ...
      c) Eine Person hat dann ihren dauernden Aufenthalt in Deutschland, wenn sie nicht nur vorübergehend, sondern auf unabsehbare Zeit hier lebt, so daß eine Beendigung des Aufenthalts ungewiß ist. ...
      d) Die Feststellung des dauernden Aufenthalts setzt eine in die Zukunft gerichtete Prognose unter Berücksichtigung der tatsächlichen Verhältnisse voraus. ... Es kommt ... für den dauernden Aufenthalt nicht ausschlaggebend darauf an, ob und ggf. welchen der in §5 AuslG 1990 genannten Aufenthaltstitel die Ausländerbehörde erteilt. Auch ein zeitlich befristeter Aufenthaltstitel schließt einen dauernden Aufenthalt nicht aus. ...
      e) Der Einbürgerungsanspruch setzt nach Art.2 Nr.2 AG-StlMindÜbk weiterhin voraus, daß der Staatenlose "rechtmäßig" seinen dauernden Aufenthalt im Bundesgebiet hat. ...
      aa) Grundsätzlich ist der Aufenthalt eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland nur dann rechtmäßig, wenn er von der zuständigen Ausländerbehörde erlaubt worden ist ... Die Rechtmäßigkeit muß sich auf den dauernden Aufenthalt beziehen, ihn "abdecken". Nicht die bloße Anwesenheit, sondern ein etwaiger Daueraufenthalt des Ausländers in Deutschland muß rechtmäßig sein. In den Fällen der Genehmigungsbedürftigkeit ist daher vorauszusetzen, daß die Aufenthaltsgenehmigung für einen dauernden, nicht bloß für einen vorübergehenden Aufenthaltszweck erteilt wird.
      bb) Im vorliegenden Fall kam für die Klägerin zunächst der Befreiungstatbestand des §2 Abs.2 Nr.1 AuslG 1965 in Betracht. Danach bedurfte ein Ausländer keiner Aufenthaltserlaubnis, wenn er das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte. ...
      cc) Aus dem Befreiungstatbestand des §2 Abs.2 Nr.1 AuslG 1965 folgte auch die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts. ... Es entspricht ... der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, daß durch den Befreiungstatbestand des §2 Abs.2 Nr.1 AuslG 1965 ein Aufenthaltsrecht festgelegt und der dort genannte Personenkreis Ausländern gleichgestellt wurde, die eine Aufenthaltserlaubnis besaßen ... Dieses Aufenthaltsrecht deckt auch einen dauernden Aufenthalt. ...
      f) Nach Art.2 Nr.2 AG-StlMindÜbk muß der Einbürgerungsbewerber seit fünf Jahren rechtmäßig seinen dauernden Aufenthalt in Deutschland haben. Aus der Formulierung ""seit" ergibt sich ohne weiteres, daß der rechtmäßig dauernde Aufenthalt nicht nur im Zeitpunkt der Entscheidung über die Einbürgerung, sondern während der gesamten dieser Entscheidung vorausgegangenen Frist von fünf Jahren vorgelegen haben muß. ...
      4. Unter Zugrundelegung der vorstehenden Grundsätze und der tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts ergibt sich, daß die Klägerin seit fünf Jahren rechtmäßig ihren dauernden Aufenthalt in Deutschland hat und auch die übrigen Tatbestandsvorausetzungen des Einbürgerungsanspruchs nach Art.2 AG-StlMindÜbk erfüllt.