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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


950. ASYLRECHT UND ASYLGRUNDRECHT

Nr.88/3

Eingriffe in die Freiheit religiöser Betätigung stellen dann eine politische Verfolgung dar, wenn sie nach ihrer Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen.

Interferences with the freedom of religious activities constitute political persecution if they are of such intensity and severity as to amount to a violation of human dignity.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 25.10.1988 (9 C 37.88), BVerwGE 80, 321 (ZaöRV 50 [1990], 96)

Einleitung:

      Der Kläger ist Staatsangehöriger der Republik Zaire und Mitglied der Glaubensgemeinschaft der "Zeugen Jehovas". Sein Asylbegehren begründet er u.a. damit, ihm drohe politische Verfolgung, weil er aufgrund seiner religiösen Überzeugung außerstande sei, der in seiner Heimat bestehenden Pflicht zu genügen, die Staatsflagge zu grüßen. Das Bundesverwaltungsgericht bejaht im Ergebnis eine asylrelevante politische Verfolgung.

Entscheidungsauszüge:

      Die für eine Verfolgung i.S. des Art.16 Abs.2 Satz 2 GG erforderliche Intensität haben Eingriffe in Leib, Leben und physische Freiheit generell; Eingriffe in andere Freiheitsrechte oder Schutzgüter stellen dann eine Verfolgung dar, wenn sie nach ihrer Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen (ständige Rechtsprechung ... BVerfGE 76, 143 [158] ...). Das Prinzip der Menschenwürde ist damit das entscheidende Kriterium zur Abgrenzung von Verfolgung i.S. des Art.16 Abs.2 Satz 2 GG von sonstigen Nachteilen ...
      Durch die Belastung mit der Pflicht, die zairische Staatsflagge bei zahlreichen Gelegenheiten grüßen zu müssen, werden ... die Staatsbürger Zaires, die den Flaggengruß aus religiöser Überzeugung ablehnen, nicht in ihrer Menschenwürde beeinträchtigt. Eingriffe in die Freiheit der religiösen Überzeugung und Betätigung sind eine Beeinträchtigung der Menschenwürde des Gläubigen dann, wenn dieser durch die ihm auferlegten Einschränkungen und Verhaltenspflichten als religiös geprägte Persönlichkeit in ähnlich schwerer Weise wie bei Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit oder die physische Freiheit in Mitleidenschaft gezogen wird ... Das trifft u. a. für Maßnahmen zu, die darauf gerichtet sind, daß der Gläubige tragende Inhalte seiner Glaubensüberzeugung verleugnet oder sogar preisgibt und somit seiner religiösen Identität beraubt wird ...
      Ob den Angehörigen einer bestimmten Glaubensrichtung durch Beobachtung eines ihnen abverlangten, mit ihrer religiösen Überzeugung unvereinbaren Verhaltens eine Leugnung oder gar Preisgabe tragender Glaubensinhalte zugemutet und ihnen die religiöse Identität geraubt wird, beurteilt sich nicht nach dem subjektiven Empfinden des einzelnen Gläubigen. Was ein einzelner Mensch oder eine Gruppe von Menschen aufgrund besonderer persönlicher Prädisponiertheit subjektiv als gravierenden Eingriff empfindet, muß diesen Charakter nicht auch objektiv tragen ... Aber auch das Selbstverständnis der Religion von der Bedeutung des Glaubenselements, das von dem staatlichen Zugriff betroffen wird, kann nicht ohne weiteres entscheidend sein. Nicht die Religionsfreiheit i.S. des Art.4 Abs.1 GG, sondern der vom Prinzip der Menschenwürde garantierte Mindestfreiraum bei der Religionsausübung ist das asylrechtliche Schutzgut ... "Verleugnung und Preisgabe tragender Glaubensinhalte" und "Raub der religiösen Identität" umschreiben die Folgen einer ... das Prinzip der Menschenwürde verletzenden Einschränkung im Bereich der religiösen Betätigung. Als bloße Verdeutlichung und Konkretisierung des Kriteriums der Menschenwürde für die Beurteilung eines Eingriffs in die Freiheit der religiösen Betätigung verweisen sie mithin auf den objektiven Maßstab der Menschenwürde zurück, so daß das objektiv maßgebende Kriterium die Intensität und Schwere des Eingriffs in den Kern der religiösen Persönlichkeit bleibt.
      Hiervon ausgehend, kann die Auferlegung der Pflicht, bei bestimmten Gelegenheiten die Staatsflagge zu grüßen, in aller Regel nicht als Verletzung des Kerns der religiösen Persönlichkeit eines Zeugen Jehovas angesehen werden. Die gelegentliche Vornahme des Flaggengrußes berührt den Zeugen Jehovas nicht in dem elementaren Bereich seiner sittlichen Persönlichkeit, in dem ihm zur Erhaltung seiner Existenz als überzeugter Angehöriger seiner Glaubensrichtung die Selbstbestimmung über sein Tun und Lassen verbleiben muß. Das abverlangte Verhalten stellt nicht mehr als eine gelegentlich vorzunehmende, rein äußerliche Geste dar. Die dieser Geste innewohnende Aussage betrifft ausschließlich das Verhältnis "Staatsbürger - Staat"; die religiöse Dimension der Persönlichkeit des den Gruß Entbietenden wird nach dem objektiven Sinngehalt der Geste nicht berührt. Sinn und Bedeutung dieser Geste gehen im übrigen über die in zahlreichen Staaten ebenfalls üblichen Formen der Loyalitätsbezeugung gegenüber herausgehobenen staatlichen Repräsentanten oder staatlichen Symbolen, etwa dem Verhalten beim Erklingen der Nationalhymne, beim Auftreten des Monarchen oder Staatspräsidenten usw., nicht hinaus.
      Nach den weiteren Feststellungen des Berufungsgerichts wird gegen den Kläger im Falle der Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Haftstrafe verhängt werden, weil er, wie gleichfalls festgestellt, den Flaggengruß verweigern wird. Das Berufungsgericht hat dieser Bestrafung offenbar politischen Charakter beigemessen, denn es hat ausgeführt, die Bestrafung würde darauf gerichtet sein, den Kläger als Angehörigen einer religiösen Minderheit seiner religiösen Identität zu berauben, indem ihm eine Verleugnung oder gar Preisgabe tragender Glaubensinhalte seiner Glaubensüberzeugung zugemutet werden würde. Ob diese Einschätzung mit der vom Berufungsgericht weiter getroffenen Feststellung vereinbar ist, daß der zairische Staat jede Verweigerung des Flaggengrußes unterschiedslos und ohne Rücksicht auf die hinter der Verweigerung stehenden Motive und Gründe bestraft, kann offenbleiben. Denn eine Asylberechtigung des Klägers ergibt sich bereits aus der weiteren Feststellung des Oberverwaltungsgerichts, daß durch Dekret vom 12. März 1986 die Organisation der "Zeugen Jehovas" aufgelöst worden ist und daß dies geschehen ist, weil den zairischen Behörden die ablehnende Einstellung der Angehörigen dieser Glaubensgruppe zum Flaggengruß und zum Militärdienst mißfällt.
      ... Die in Art.1 des Dekrets vom 12. März 1986 verfügte, in der deutschen Übersetzung mit "Auflösung" bezeichnete und neben dem in Art.2 des Dekrets angeordneten Entzug der Rechtspersönlichkeit stehende Maßnahme versteht das Berufungsgericht als Verbot des organisatorischen Zusammenhalts der Zeugen Jehovas in Zaire und ihrer gemeinschaftlichen Religionsausübung. Dies wiederum zeigt u.a. die weitere Bezugnahme auf den Bericht von amnesty international vom 30. Januar 1987, wonach Zeugen Jehovas für die Fortsetzung ihrer Aktivitäten innerhalb der verbotenen Gemeinschaft nunmehr Strafe zu erwarten haben.
      Dieser Eingriff in die Freiheit der Religionsausübung stellt seiner Intensität nach eine Verfolgung i.S. des Art.16 Abs.2 Satz 2 GG dar, denn den Zeugen Jehovas wird verboten, ihren Glauben im privaten Bereich und unter sich zu bekennen und Gottesdienst abseits der Öffentlichkeit in privater Gemeinschaft mit ihren Glaubensgenossen zu halten ... An dieses Verbot würde sich der Kläger im Falle der Rückkehr nach Zaire auch halten müssen. Mangels festgestellter, auf das Gegenteil deutender Hinweise muß vorausgesetzt werden, daß der zairische Staat das Verbot auch durchsetzen wird ... Ferner würde sich die Befolgung des Verbots für den Kläger als Verzicht auf eine Form der Ausübung seines Glaubens darstellen, die er als ein nach den Feststellungen des Berufungsgerichts überzeugter und aktiver Zeuge Jehovas als für sich verpflichtend empfindet und die er auch bisher praktiziert hat.
      Diese Verfolgungsmaßnahme ist politisch. Motiv der zairischen Behörden für den Erlaß der Verbotsverfügung vom 12. März 1986 war die Abneigung des Regimes gegen die ablehnende Haltung der Zeugen Jehovas zum Militärdienst und zum Flaggengruß. Das nach der Ausreise des Klägers aus Zaire verfügte Verbot der Glaubensgemeinschaft, welcher der Kläger bereits vor seiner Ausreise angehört hatte, stellt einen objektiven Nachfluchttatbestand dar. Die Anerkennung einer Asylberechtigung wegen eines objektiven Nachfluchttatbestandes unterliegt grundsätzlich keinen besonderen Einschränkungen.