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Oberlandesgericht Celle, Beschluß vom 1.8.1990 (1 Ws 203/90), MDR 1991, 76 (ZaöRV 52 [1992], 420)
Nach §56f Abs.1 Satz 1 Nr.1 StGB widerruft das Gericht die Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung, wenn der Verurteilte in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und dadurch zeigt, daß die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat. Nach dem Widerruf wird die Freiheitsstrafe vollstreckt. Das Oberlandesgericht erörtert die im Hinblick auf die Unschuldsvermutung in Literatur und Rechtsprechung umstrittene Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Gericht die Annahme, der Verurteilte habe eine neue Straftat begangen, seiner Widerrufsentscheidung zugrunde legen darf.
§56f Abs.1 Nr.1 StGB setzte nach bisher überwiegender Auffassung lediglich voraus, daß die Begehung einer Straftat zur Überzeugung des Gerichts, das den Widerruf ausspricht, feststeht. Dazu wurde es für erforderlich gehalten, daß das Gericht aufgrund zweifelsfreier Tatsachen, etwa eines Geständnisses, die feste Überzeugung erlangte und auch erlangen durfte, daß der Verurteilte die neue Tat begangen hat (BVerfG, NStZ 87, 118; OLG Stuttgart, NJW 1976, 200 und neuerdings Justiz 1990, 303; OLG Koblenz, VRS 54, 192; 60, 427, 428; OLG Zweibrücken, StV 1985, 465; OLG DÜsseldorf, StV 1986, 346 ...). Rechtskräftige Aburteilung wurde nicht verlangt; es wurden aber hohe Anforderungen an die Überzeugungsbildung hinsichtlich des Tat- und Schuldnachweises für die neue Straftat gestellt ...
Richtigerweise ist jedoch zwingende Voraussetzung für den Widerruf der Strafaussetzung nach §56f StGB, daß die neue Verurteilung rechtskräftig festgestellt wird (vgl. OLG Schleswig, NStZ 1986, 363 ...). Nur diese Auffassung entspricht dem Grundsatz des Art.6 Abs.2 EMRK, wonach "bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld" vermutet wird, "daß der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist" (vgl. dazu auch die bei Ostendorf, StV 1990, 231 erwähnte gütliche Regelung gem. Art.28b EMRK, die unter Vermittlung der Europäischen Kommission für Menschenrechte zwischen der Bundesregierung und einem Beschwerdeführer abgeschlossen worden ist). Die bisher herrschende, auch vom Senat vertretene Meinung, nach der für den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung geringere Voraussetzungen genügten, kann bei genauerer Prüfung vor dem Hintergrund des Art.6 Abs.2 EMRK nicht aufrechterhalten werden. Auch strenge Anforderungen hinsichtlich des Tat- und Schuldnachweises für die neue Straftat an die Überzeugungsbildung des für den Widerruf zuständigen Richters können den "gesetzlichen Nachweis" der Schuld nicht ersetzen.
Dieser Auffassung schloß sich auch das Oberlandesgericht München in einem Beschluß vom 19.12.1990 (1 Ws 1137/90 - NJW 1991, 2302) an. Abweichend entschied das Oberlandesgericht Köln in dem nachfolgend abgedruckten Beschluß.