Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Logo Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

Sie befinden sich hier: Publikationen Archiv Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000

Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


Home | Inhalt | Zurück | Vor

Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1112. EINZELNORMEN DER EMRK

Art.6 Abs.2 EMRK

Nr.90/3

Eine Strafaussetzung zur Bewährung darf wegen Begehung einer neuen Straftat in der Bewährungszeit nach §56f Abs.1 Satz 1 Nr.1 StGB nicht nur nach rechtskräftiger Verurteilung wegen der Nachtat, sondern bereits dann widerrufen werden, wenn der Verurteilte ein Geständnis abgelegt hat, das glaubhaft und in rechtsstaatlich unbedenklicher Weise zustande gekommen ist. Die Unschuldsvermutung gebietet nicht, einem solchen Geständnis die Anerkennung zu versagen.

The suspension of a sentence on probation may be revoked pursuant to sec.56f (1) (1) (1) of the Criminal Code on the ground that the probationer has committed a new criminal offense during the probation period, not only after the probationer's final, non-appealable conviction for this new offense, but also after the probationer has made a credible confession that has not been obtained in violation of due process principles. The presumption of innocence does not require the court to deny recognition of such a confession.

Oberlandesgericht Köln, Beschluß vom 16.10.1990 (2 Ws 487/90), NJW 1991, 505 (ZaöRV 52 [1992], 419)

Einleitung:

      Der Beschwerdeführer war 1986 wegen fortgesetzten unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Unter dem Verdacht, während der Bewährungszeit erneut mit Betäubungsmitteln Handel getrieben zu haben, befindet sich der Beschwerdeführer in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft hat wegen der Nachtat Anklage erhoben. Auf ihren Antrag hat die Strafkammer die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen, weil der Verurteilte die neu angeklagte Straftat glaubhaft teilweise gestanden habe. Die Ergebnisse der Ermittlungen sprächen für eine über das Geständnis hinausgehende Tatbeteiligung. Gegen diese Widerrufsentscheidung richtet sich die sofortige Beschwerde, der das Oberlandesgericht stattgab.

Entscheidungsauszüge:

      Der angefochtene Beschluß ist aufzuheben, da die Erwägungen der Strafkammer zur strafrechtlichen Bewährung des Verurteilten durchgreifenden rechtlichen Bedenken im Hinblick auf die aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art.20 Abs.3 GG) folgende und in Art.6 Abs.2 EMRK normierte Unschuldsvermutung begegnen.
      Die Strafkammer hat sich aufgrund der Ermittlungen ... davon überzeugt, daß der Verurteilte erneut eine Straftat begangen hat ... Der auf diese Feststellungen vor rechtskräftiger Aburteilung des Tatvorwurfs gestützte Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung verstößt unter den hier gegebenen Umständen gegen den Anspruch des Verurteilten auf Wahrung der Unschuldsvermutung bis zu einem in Rechtskraft erwachsenen Schuldspruch. Nach dem gegenwärtigen Sachstand kann das neue Strafverfahren gegen ihn noch nicht als ausreichende Grundlage für einen Bewährungswiderruf herangezogen werden.
      Das Gericht widerruft gem. §56f Abs.1 Satz 1 Nr.1 StGB die Strafaussetzung, wenn der Verurteilte in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und weitere, hier nicht näher zu erörternde Voraussetzungen vorliegen. Wenngleich der Wortlaut des Gesetzes demnach allein die Feststellung einer Straftat erfordert, wird von einigen Stimmen im Schrifttum aus rechtsstaatlichen Gründen eine im Schuldspruch rechtskräftige Verurteilung durch ein anderes Strafgericht verlangt (so Ostendorf, StrVert 1990, 230 ff. ...). Erwägungen in dieser Richtung sind in jüngster Zeit erneut durch eine gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Individualbeschwerde bei der EKMR (Nr.12748/87) angeregt worden, die von der Kommission für zulässig erachtet worden war, nachdem das Bundesverfassungsgericht die Annahme der Verfassungsbeschwerde wegen nicht hinreichender Erfolgsaussicht abgelehnt hatte, und durch eine gütliche Regelung gem. Art.28b EMRK ihre Erledigung gefunden hat ... Nach der in Rechtsprechung und Literatur herrschenden, vom Bundesverfassungsgericht (NStZ 1987, 118; NJW 1988, 1715 ff. ...) gebilligten Auffassung ist dagegen der Widerruf auch bereits vor rechtskräftiger Verurteilung möglich, wobei freilich hohe Anforderungen an die Überzeugungsbildung in bezug auf die schuldhafte Begehung einer neuen Straftat gestellt werden. Es wird gefordert, daß Täterschaft und Schuld bereits nach Aktenlage in einer jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Weise festgestellt werden können (KG, StrVert 1988, 26 ff. und JZ 1983, 423 [424]; OLG Düsseldorf, StrVert 1986, 346 ...). Daran ist festzuhalten.
      Daraus folgt allerdings, daß in Fällen geringsten Zweifels der Eintritt der Rechtskraft des Schuldspruchs abzuwarten ist ... Dies wiederum muß dazu führen, daß ein früherer Widerruf ausscheidet, wenn das Gericht sich erst in eingehender Beweiswürdigung mit Einwendungen des noch nicht verurteilten Beschuldigten gegen die neuen Vorwürfe auseinandersetzen und insoweit einen "Schattenprozeß" nach Aktenlage im Vorgriff auf das zu erwartende Urteil führen muß, ohne daß der Beschuldigte dabei die vollen Verteidigungsmöglichkeiten des (noch ausstehenden) Hauptverfahrens ausschöpfen könnte. In solchen Fällen können letzte Zweifel ohne die Erkenntnismöglichkeiten einer Hauptverhandlung nicht gänzlich ausgeräumt werden.
      Praktisch wird daher im allgemeinen der Widerruf vor rechtskräftiger Aburteilung nur möglich sein, wenn der Verurteilte ein Geständnis abgelegt hat, das nach allen verfügbaren Erkenntnisquellen keinerlei Anlaß zu Zweifeln hinsichtlich seiner Glaubhaftigkeit bietet (so auch Oberlandesgericht Zweibrücken, StrVert 1985, 465 ...). In einem solchen Fall ist die Unschuldsvermutung nicht verletzt, da sie nicht gebietet, einem überzeugenden Schuldbekenntnis, das in einer - unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten - unbedenklichen Weise zustande gekommen ist, die Anerkennung zu versagen.
      Davon ausgehend kann der angefochtene Beschluß keinen Bestand haben, da die Schuldfeststellung der Strafkammer den dargestellten Anforderungen nicht genügt.