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Il parametro negletto-Diritto dell'Unione europea e giudizio in via principale (Unionsrecht und abstrakte Normenkontrolle)

Über das Projekt:

Die meisten Verfassungsgerichte Europas verwenden Unionsrecht nicht als Maßstab für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von nationalen Gesetzen, weil Unionsrecht über keinen Verfassungsrang verfügt. Verfassungsgerichte sind nämlich „die Hüter der Verfassung“, nicht „die Hüter des Unionsrechts“. Dennoch stellt die abstrakte Normenkontrolle beim italienischen Verfassungsgerichtshof eine wichtige Ausnahme dar.

Seit der Mitte der Neunziger Jahre stellt der Corte costituzionale fest, dass Unionsrecht im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle als zwischengeschalteter Maßstab (parametro interposto) angewendet werden kann: Da die italienische Verfassung vorsieht, dass die gesetzgebende Gewalt vom Staat und den Regionen auch unter Beachtung der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Verpflichtungen ausgeübt wird, steht ein unionsrechtswidriges Gesetz indirekt auch in Widerspruch zur Verfassung und kann daher vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben werden. Dieser Mechanismus erlaubt dem Verfassungsgerichtshof, „die Vereinbarkeit der nationalen mit der europäischen Rechtsordnung zu gewährleisten” und „die nationale Rechtsordnung von Regelungen zu reinigen, die mit Unionsrecht unvereinbar sind”.

Seitdem haben sich etwa 250 Fälle, in denen Unionsrecht in abstrakten Normenkontrollverfahren als Maßstab der Verfassungsmäßigkeit vom Staat oder von den Regionen herangezogen wurde, ergeben. Dieses Buch bietet eine gründliche, und bisher in der italienischen Verfassungsrechtslehre fehlende, Untersuchung dieser Rechtsprechung. Es besteht aus einem deskriptiven und analytischen sowie aus einem normativen und synthetischen Teil.

Die qualitative und quantitative Analyse dieser Rechtsprechung zeigt deutlich, dass Unionsrecht oft und zunehmend als Prüfungsmaßstab der Gesetze (insbesondere der regionalen) herangezogen wird. Dennoch zeigt die Analyse auch, dass der Verfassungsgerichtshof immer versucht, eher einen verfassungsrechtlichen als einen unionsrechtlichen Prüfungsmaßstab zu nutzen. Grund dafür ist, dass der Verfassungsgerichtshof bezüglich der Auslegung der italienischen Verfassung über das „Recht auf das letzte Wort“ verfügt. Jedoch erstreckt sich dieses Recht nicht auf die Auslegung von Unionsrecht. Aus diesem Grund, kann einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs, die die Unionsrechtmäßigkeit eines Gesetzes betrifft, von den Fachgerichten durch eine Vorabentscheidung durch den EuGH widersprochen werden.

In dem normativen Teil des Buchs wird jedoch gezeigt, dass diese Kontrolle der Unionsrechtmäßigkeit durch den Verfassungsgerichtshof großes Potenzial hat. Durch die Besprechung von konkreten Beispielen wird gezeigt, dass der Verfassungsgerichtshof durch die Kontrolle der Übereinstimmung der italienischen Gesetze mit Unionsrecht und gegebenenfalls die Aufhebung von unionsrechtswidrigen Gesetzen einen bedeutenden Beitrag zur Umsetzung des Unionsrechts und zur Vermeidung der Nichtbefolgung unionsrechtlicher Verpflichtungen leistet. Darüber hinaus erlaubt diese Kontrolle dem Verfassungsgerichtshof, einerseits, die Beachtung der Verfassung und des Unionsrechts zu koordinieren, anderseits, mit dem EuGH in eine ebenbürtige partnerschaftliche Beziehung zu treten und die Stimme der italienischen Verfassung in Luxemburg hören zu lassen.

Das vorliegende Buch untersucht aus der Perspektive der abstrakten Normenkontrolle des italienischen Verfassungsgerichtshofs eine potentielle Wandlung der Verfassungsgerichtsbarkeit: Verfassungsgerichte als Unionsgerichte. In einer Zeit in der die komplexe mehrebene Verfassungsgerichtsbarkeit Verfassungsgerichte zwingt, ihre Rolle im europäischen Rechtsraum erneut zu begreifen, bietet das Beispiel der italienischen Verfassungsgerichtsbarkeit, welche hier gründlich erforscht wurde, einen Anstoß zum Nachdenken für andere Verfassungsgerichte in Europa.

Giappichelli, Turin 2017, VIII, 153 Seiten

https://www.giappichelli.it/il-parametro-negletto


Italienische Habilitaionsschrift