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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


950. ASYLRECHT UND ASYLGRUNDRECHT

Nr.90/4

Eine auf längere Zeit angelegte zwangsweise Umerziehung und politische Indoktrination zur Herstellung, Veränderung oder Unterdrückung der politischen Gesinnung, insbesondere in speziellen Lagern oder Schulungsstätten, stellt vor allem in totalitären Staaten einen asylrechtlich erheblichen Eingriff in die politische Überzeugung dar, wenn die Äußerung abweichender politischer Ansichten nur unter Inkaufnahme von Verfolgungsrisiken möglich ist.

A sustained attempt at coercive re-education and political indoctrination aimed at the formation, modification or suppression of a person's political views, particularly in special camps or schooling facilities, qualifies as an interference in this person's political conviction, especially in totalitarian states, and thus gives rise to a right of asylum if the expression of diverging political opinion is only possible for someone deliberately running the risk of persecution.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 4.12.1990 (9 C 93.90), BVerwGE 87, 187 (ZaöRV 52 [1992], 393)

Einleitung:

      Der 1966 geborene Kläger, ein äthiopischer Staatsangehöriger eritreischer Herkunft, begehrt Asyl. Er trägt vor, er sei als Zwangsmitglied einer staatlichen äthiopischen Jugendorganisation gegen seinen Willen zur Kaderausbildung in die Sowjetunion geschickt worden. Nach seiner Heimkehr hätte er seine Landsleute politisch indoktrinieren sollen. Um sich dem zu entziehen, habe er seinen Aufenthalt in Moskau zur Flucht in die Bundesrepublik benutzt. Das Bundesverwaltungsgericht hob das Berufungsurteil, welches eine politische Verfolgung verneint hatte, auf und verwies zu weiterer Sachverhaltsaufklärung zurück.

Entscheidungsauszüge:

      Rechtsfehlerhaft ist das Berufungsurteil, soweit es den von ihm festgestellten Gewissenskonflikt des Klägers, der ihn zum Abbruch der politischen Schulung in der Sowjetunion sowie der anschließenden Flucht in die Bundesrepublik Deutschland veranlaßt hat, als rechtlich unerheblich erachtet hat. Er ist ungeachtet des Umstandes, daß er nicht im Heimatstaat des Klägers, sondern in der Sowjetunion aufgetreten ist, als Vorfluchtgrund in Betracht zu ziehen. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist entschieden, daß die auf eine längere Zeit angelegte zwangsweise Umerziehung und politische Indoktrination zur Herstellung, Veränderung oder Unterdrückung der politischen Gesinnung insbesondere in speziellen Lagern oder Schulungsstätten, vor allem in totalitären Staaten, einen asylrechtlich erheblichen Eingriff in die politische Überzeugung darstellen kann ... Dies gilt angesichts des Neutralitätsprinzips des Asylrechts und des damit verbundenen Toleranzgebots für asylrelevante Indoktrinationen, Zwangsumerziehungen und "Gehirnwäschen" aller politischen Richtungen. Damit ein Zugriff auf die politische Überzeugung, also gerade "wegen" eines Asylmerkmals, die notwendige asylrechtliche Relevanz erreicht, müssen regelmäßig drei Voraussetzungen erfüllt sein: Zunächst muß (erstens) die politische Umerziehung und Indoktrination in speziellen Lagern oder Schulungsstätten im Heimatstaat des Aslysuchenden oder in einem von ihm bestimmten Drittstaat von vornherein auf eine längere, regelmäßig mehrmonatige Dauer angelegt sein, so daß eine einmalige und kurzfristige Schulung, etwa tageweise oder an einem Wochenende, ihrer Intensität und Schwere nach durchweg nicht den Grad der "Verfolgung" im Sinne von Art.16 Abs.2 Satz 2 GG erreichen wird. Ferner wird eine solche politische Indoktrination (zweitens) regelmäßig erst dann einen asylerheblichen Zugriff auf das Asylmerkmal der politischen Überzeugung beinhalten, wenn diese Zwangsschulung und -indoktrination in einer Kaderausbildung ohne oder gegen der Willen des Betroffenen durchgeführt wird, er also bloßes Objekt staatlicher Entscheidungen ist und sich der geplanten politischen (Um-)Erziehung ... nicht oder nur unter unzumutbaren Umständen unter Inkaufnahme von Verfolgungsrisiken hätte entziehen können. Drittens ist eine derartige ideologische Zwangsschulung erst dann asylrelevant, wenn in ihr das erforderliche Mindestmaß an abweichender politischer Äußerungsfreiheit nicht besteht ... Dies ist regelmäßig dann anzunehmen, wenn in der politischen Zwangsschulung die politische Überzeugung dergestalt eingeschränkt oder unterdrückt wird, daß die Äußerung abweichender politischer Ansichten nicht oder nur unter Inkaufnahme von Verfolgungsrisiken für den Opponenten möglich ist.
      Hieraus folgt, daß ein auf die politische Überzeugungsbildung zielender Zugriff regelmäßig voraussetzt, daß sich der Asylbewerber nicht freiwillig zu ihr gemeldet hat, sondern gegen oder ohne seinen Willen mehr oder weniger zwangsweise an ihr teilnehmen mußte und sich ihr ohne Gefahren für sich in zumutbarer Weise nicht entziehen konnte. Speziell bei Jugendlichen oder Heranwachsenden wird dabei die freiwillige Mitgliedschaft in einer (staatlichen) Jugendorganisation nicht zugleich notwendiges Indiz für das Einverständnis mit einer zusätzlichen (hier mehrmonatigen) Kaderausbildung - auch in einem Drittland - umfassen [sic]. Deshalb kann ein asylrelevanter Zugriff auf die politische Überzeugungsbildung je nach den Umständen des Einzelfalls auch dann vorliegen, wenn sich ein solcher junger Mensch speziell in einem totalitären System der Auswahl und Bestimmung zur Kaderschulung und Indoktrination in einem Drittland unter zumutbaren Umständen nicht entziehen konnte und bei einer Weigerung mit nachhaltigen Konsequenzen rechnen mußte. Verläßt ein Jugendlicher unter Inkaufnahme von Verfolgungsrisiken eine asylrechtlich erhebliche mehrmonatige politische Zwangsschulung vorzeitig ohne Erlaubnis, weil er sich gegen die Einseitigkeit oder Unterdrückung seiner politischen Willensbildung wendet oder weil er den Inhalt der zwangsweise vermittelten Ideologie - ohne die zureichende Möglichkeit der Äußerung abweichender Auffassungen zu haben - ablehnt, und liegt aus der Sicht des Verfolgerstaates in dem Abbruch einer Ausbildung zum Kader ein Straftatbestand oder droht ihm eine sonstige Gefährdung an Leib, Leben oder Freiheit etwa wegen "ideologischen Verrats", so kann darin eine asylrechtlich erhebliche Zwangslage liegen, die ihren Charakter als Vorfluchttatbestand nicht dadurch verliert, daß die Flucht aus einem dem System des Heimatstaates des Asylsuchenden ideologisch verbundenen Drittstaat erfolgt, in dem die zwangweise Umerziehung und Indoktrination stattfinden soll. An die Darlegungs- und Beweislast für den Nachweis derartiger objektiver Anhaltspunkte für eine bestehende Zwangslage sind aber strenge Anforderungen zu stellen ... Dies gilt insbesondere auch dann, wenn sich der betreffende Jugendliche über längere Zeit äußerlich konform verhalten hat, so daß daraus bei objektiver Betrachtung der Schluß gezogen werden kann, daß er mit Art, Ort und Dauer der politischen Indoktrination einverstanden ist.