Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Logo Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

Sie befinden sich hier: Publikationen Archiv Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000

Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


Home | Inhalt | Zurück | Vor

Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


950. ASYLRECHT UND ASYLGRUNDRECHT

Nr.91/1

[a] Das Grundrecht des Art.16 Abs.2 Satz 2 GG ist ein Individualgrundrecht. Es kann nur von einer Person in Anspruch genommen werden, die selbst politische Verfolgung erlitten hat oder der eine solche unmittelbar droht.

[b] Die Gefahr eigener politischer Verfolgung einer Asylbewerberin kann sich jedoch auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das sie mit ihnen teilt, und wenn sie sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet.

[c] Gilt die Verfolgung der durch das asylerhebliche Merkmal gekennzeichneten Gruppe als solcher dergestalt, daß jedes Gruppenmitglied im Verfolgerstaat eigener Verfolgung jederzeit gewärtig sein muß, so genügt allein die Gruppenzugehörigkeit, um die Voraussetzungen des Art.16 Abs.2 Satz 2 GG zu erfüllen.

[a] The fundamental right guaranteed in Art.16 (2) (2) of the Basic Law is an individual right. It can only be invoked by a person who has personally been subject to political persecution or who is threatened by such persecution in the immediate future.

[b] The threat of individual political persecution to an asylum seeker can be deduced from measures taken against third persons, however, if (1) these persons were persecuted for a characteristic which renders their persecution political for purposes of Art.16 (2) 2 of the Basic Law; (2) the asylum seeker shares this characteristic with the persons so persecuted; and (3) her situation is similar to the situations of the persons persecuted with regard to place, time and likelihood of renewed persecution.

[c] If the persecution is directed against a group of persons sharing a common characteristic because of this characteristic, and this characteristic is of a kind which renders the persecution political for purposes of Art.16 (2) 2 of the Basic Law, and every member of the group in the persecuting state can expect individual persecution at any time, membership in the group alone suffices to meet the conditions of Art.16 (2) (2) of the Basic Law.

Bundesverfassungsgericht, Beschluß vom 23.1.1991 (2 BvR 902/85 und 515, 1827/89), BVerfGE 83, 216 (ZaöRV 53 [1993], 398 f.)

Einleitung:

      Die Beschwerdeführer sind Angehörige der jezidischen Minderheit in der Türkei. Sie machen geltend, die Jeziden seien wegen ihrer Religion in ihrem angestammten Siedlungsgebiet im Südosten der Türkei ohne staatlichen Schutz Übergriffen der muslimischen Bevölkerungsmehrheit ausgesetzt.

Entscheidungsauszüge:

      C. ... I. Das Grundrecht des Art.16 Abs.2 Satz 2 GG ist ein Individualgrundrecht. Nur derjenige kann es in Anspruch nehmen, der selbst - in seiner Person - politische Verfolgung erlitten hat, weil ihm in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale gezielt intensive und ihn aus der übergreifenden Friedensordnung des Staates ausgrenzende Rechtsverletzungen zugefügt worden sind, und weil er aus diesem Grunde gezwungen war, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Land zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen; dabei steht der eingetretenen Verfolgung die unmittelbar drohende Gefahr der Verfolgung gleich ...
      1. Bei Prüfung der Frage, ob sich ein Flüchtling in diesem Sinne in einer ausweglosen Lage befindet, vor der ihm das Asylrecht Schutz gewähren soll, sind alle Umstände in den Blick zu nehmen, die objektiv geeignet sind, bei ihm begründete Furcht vor (drohender) Verfolgung hervorzurufen. Sie kann sich aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen des Verfolgers ergeben, sofern diese ihn in Anknüpfung an ein asylerhebliches Merkmal treffen sollen und die erforderliche Intensität aufweisen. Eigene politische Verfolgung kann auch dann zu bejahen sein, wenn solche Maßnahmen den Betroffenen noch nicht ereilt haben, ihn aber - weil der Verfolger ihn bereits im Blick hat - demnächst zu ereilen drohen.
      Damit hat es jedoch nicht sein Bewenden. Die Gefahr eigener politischer Verfolgung eines Asylbewerbers kann sich auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet und deshalb seine eigene bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutsbeeinträchtigungen als eher zufällig anzusehen ist. In solcher Lage kann die Gefahr der eigenen politischen Verfolgung auch aus fremdem Schicksal abgeleitet werden.
      In welchem Maße dies der Fall ist, wird je nach den tatsächlichen Verhältnissen, unter denen sich politische Verfolgung in den Herkunftsländern ereignet, unterschiedlich zu beurteilen sein. Allgemein ist jedoch davon auszugehen, daß die Gefahr eigener politischer Verfolgung wächst, je weniger der Staat selbst oder Dritte in einer dem Staat zuzurechnenden Weise bei ihren Verfolgungsmaßnahmen an ein bestimmtes Verhalten der davon Betroffenen anknüpfen, die Verfolgung also nicht mit einer von deren Tun ausgehenden realen oder vermeintlichen Gefahr in Verbindung steht und unabhängig von einem besonderen Anlaß vorgenommen wird, mit dem sie sich als Träger eines asylerheblichen Merkmals in Verbindung bringen lassen. Die historische und zeitgeschichtliche Erfahrung lehrt, daß für den Einzelnen die Gefahr, selbst verfolgt zu werden, um so größer und - hinsichtlich ihrer Aktualität - um so unkalkulierbarer ist, je weniger sie von individuellen Umständen abhängt oder geprägt ist und je mehr sie unter Absehung hiervon überwiegend oder ausschließlich an kollektive, dem Einzelnen unverfügbare Merkmale anknüpft. Sieht der Verfolger von individuellen Momenten gänzlich ab, weil seine Verfolgung der durch das asylerhebliche Merkmal gekennzeichneten Gruppe als solcher und damit grundsätzlich allen Gruppenmitgliedern gilt, so kann eine solche Gruppengerichtetheit der Verfolgung dazu führen, daß jedes Mitglied der Gruppe im Verfolgerstaat eigener Verfolgung jederzeit gewärtig sein muß.
      Unter welchen Voraussetzungen von einer solchen gruppengerichteten Verfolgung bei unmittelbar staatlicher Verfolgung auszugehen ist, bedarf aus Anlaß der vorliegenden Verfassungsbeschwerden keiner verfassungsrechtlichen Klärung. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung durch Dritte setzt jedenfalls voraus, daß Gruppenmitglieder Rechtsgutsbeeinträchtigungen erfahren, aus deren Intensität und Häufigkeit jedes einzelne Gruppenmitglied die begründete Furcht herleiten kann, selbst alsbald ein Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden. Das wird vor allem bei gruppengerichteten Massenausschreitungen der Fall sein, die das ganze Land oder große Teile desselben erfassen, oder etwa auch dann, wenn unbedeutende oder kleine Minderheiten mit solcher Härte, Ausdauer und Unnachsichtigkeit verfolgt werden, daß jeder Angehörige dieser Minderheit sich ständig der Gefährdung an Leib, Leben oder persönlicher Freiheit ausgesetzt sieht.
      Gruppengerichtete Verfolgungen, die von Dritten ausgehen, brauchen nicht ein ganzes Land gewissermaßen flächendeckend zu erfassen. Die ihnen zugrundeliegenden ethnischen, religiösen, kulturellen oder sozialen Gegensätze können in einzelnen Landesteilen unterschiedlich ausgeprägt sein; die darin wurzelnden Spannungen können sich in unterschiedlichem Grade auf das Zusammenleben verschiedener Bevölkerungsteile auswirken. Oft ist insoweit ein innerhalb des Landes bestehendes Entwicklungs- oder Zivilisationsgefälle von Bedeutung. Deshalb ist - jedenfalls bei gruppengerichteten Verfolgungen durch nicht-staatliche Kräfte - von der Möglichkeit auszugehen, daß solche Verfolgungen regional oder lokal begrenzt sind mit der Folge, daß sich die verfolgungsfreien Räume als inländische Fluchtalternative ... darstellen können und daß die dort ansässigen Gruppenangehörigen als unverfolgt zu gelten haben. Allerdings bedarf dabei näherer Ermittlung, ob eine bestehende Schutzunwilligkeit des Staates die Gefahr einer Ausweitung der Verfolgung in bisher verfolgungsfreie Räume begründet.
      2. Hieraus ergibt sich, daß die unmittelbare Betroffenheit des Einzelnen durch gerade auf ihn zielende Verfolgungsmaßnahmen ebenso wie die Gruppengerichtetheit der Verfolgung nur Eckpunkte eines durch fließende Übergänge gekennzeichneten Erscheinungsbildes politischer Verfolgung darstellen. Die Anknüpfung an die Gruppenzugehörigkeit bei Verfolgungshandlungen ist nicht immer eindeutig erkennbar. Oft tritt sie nur als ein mehr oder minder deutlich im Vordergrund stehender, die Verfolgungsbetroffenheit mitprägender Umstand hervor, der - je nach Lage der Dinge - für sich allein noch nicht die Annahme politischer Verfolgung jedes einzelnen Gruppenmitglieds, wohl aber bestimmter Gruppenmitglieder rechtfertigt, die sich in vergleichbarer Lage befinden. Auch solchen Fällen im Übergangsbereich zwischen anlaßgeprägter Einzelverfolgung und gruppengerichteter Kollektivverfolgung muß Rechnung getragen werden, um das Phänomen politischer Verfolgung sachgerecht zu erfassen; tatsächlich bestehende asylerhebliche Gefährdungslagen dürfen nicht in einer den Gewährleistungsinhalt des Grundrechts verkürzenden Weise unberücksichtigt bleiben.
      Daraus folgt, daß die gegenwärtige Gefahr politischer Verfolgung für einen Gruppenangehörigen aus dem Schicksal anderer Gruppenmitglieder möglicherweise auch dann herzuleiten ist, wenn diese Referenzfälle es nicht rechtfertigen, vom Typus einer gruppengerichteten Verfolgung auszugehen. Hier wie da ist es von Belang, ob vergleichbares Verfolgungsgeschehen sich in der Vergangenheit schon häufiger ereignet hat, ob die Gruppenangehörigen als Minderheit in einem Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung leben müssen, das Verfolgungshandlungen wenn nicht gar in den Augen der Verfolger rechtfertigt, so doch tatsächlich begünstigt, und ob sie ganz allgemein Unterdrückungen und Nachstellungen ausgesetzt sind, mögen diese als solche auch noch nicht von einer Schwere sein, die die Annahme politischer Verfolgung begründet. Bezogen auf die fachgerichtlich entwickelten Unterscheidungen liegt es nahe, den vom Bundesverwaltungsgericht in Abgrenzung zur Gruppenverfolgung geprägten Begriff der Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit (BVerwGE 70, 232 [233 f.]; 74, 31 [34]) in diesem Sinne zu verstehen und ihn damit in einer Weise heuristisch zu verwenden, die der vielgestaltigen Realität politischer Verfolgung Rechnung trägt.
      3. Die begriffliche Aufbereitung der Erscheinungsformen politischer Verfolgung ... ist Aufgabe der Fachgerichte. ... Dabei steht den Fachgerichten ein gewisser "Wertungsrahmen" zu (BVerfGE 76, 143 [162]). ...
      4. Verfolgungen durch Dritte - seien sie nun gruppengerichtet oder in dem erwähnten heuristischen Sinne als Einzelverfolgungen wegen Gruppenzugehörigkeit anzusehen - sind dem jeweiligen Staat zuzurechnen, wenn er nicht mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Kräften Schutz gewährt ... Die Intensität dieses Schutzes muß dem Grad der Bedrängnis entsprechen, in der die Gruppe sich befindet. Die Fachgerichte haben daher staatliche Schutzvorkehrungen daraufhin zu überprüfen, ob es sich um Reaktionen handelt, die der Schwere der Übergriffe entsprechen; in diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, ob und in welchem Ausmaß die betroffene Gruppe schon in der Vergangenheit politischer Verfolgung ausgesetzt war.
      Staatliche Schutzbereitschaft kann nicht schon deshalb bejaht werden, weil die zum Handeln verpflichteten Organe erklären, ihren diesbezüglichen Pflichten genügen zu wollen. Gerade der die Ausschreitungen Dritter innerlich billigende Staat wird sich oft - schon aus außenpolitischen Gründen - von diesen distanzieren und sie - etwa unter dem Hinweis auf bestehende Rechtsvorschriften - nach außen hin mißbilligen. Schutzbereitschaft läßt sich also nicht schon mit dem bloßen Hinweis auf bestehendes Verfassungs- oder Gesetzesrecht des Heimatstaates als gegeben unterstellen; erforderlich ist vielmehr, daß sie - nicht anders als an den Orten einer angenommenen Fluchtalternative ... - konkret belegbar ist. Auf eine staatliche Schutzunwilligkeit kann es hindeuten, wenn der Staat landesweit oder in der betreffenden Region zum Schutz anderer Gruppen oder zur Wahrung seiner eigenen Interessen mit deutlich effektiveren Mitteln und im Ergebnis deutlich erfolgreicher einschreitet. Freilich ist auch hier mit zu bedenken, daß es keiner staatlichen Ordnungsmacht möglich ist, einen lückenlosen Schutz vor Unrecht und Gewalt zu garantieren ...