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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


950. ASYLRECHT UND ASYLGRUNDRECHT

Nr.91/2

In Fällen der Gruppenverfolgung, in denen der zur maßgeblichen Gruppe gehörende Asylbewerber am eigenen Leib noch keine Verfolgungsmaßnahmen erlitten hat, richtet sich seine Asylberechtigung nach der Zumutbarkeitsformel. Danach hegt ein Asylsuchender begründete Furcht vor politischer Verfolgung, wenn es ihm bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles nicht zuzumuten ist, in seinem Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Die Verfolgungsgefahr ist dabei objektiv zu beurteilen.

In cases of group persecution in which an asylum seeker belonging to this group not personally suffered persecution, his or her right to asylum will be evaluated pursuant to a reasonableness standard. According to this standard an asylum seeker will have a well-founded fear of political persecution if, taking fairly into account all the circumstances of the case, it is unreasonable to require the person to remain in or return to his or her home country. In this context the threat of political persecution must be determined according to an objective standard.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 23.7.1991 (9 C 154.90), BVerwGE 88, 367 (ZaöRV 53 [1993], 399f.)

Einleitung:

      Ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und jezidischen Glaubens hatte zur Begründung seines Asylantrags geltend gemacht, in der Türkei wegen seines Glaubens von Muslimen mißhandelt worden zu sein. Das Bundesverwaltungsgericht nimmt den Fall zum Anlaß, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Gruppenverfolgung (oben 950 [91/1]) durch klarstellende Hinweise zu ergänzen.

Entscheidungsauszüge:

      Nach der ... Rechtsprechung [des Bundesverfassungsgerichts zur Gruppenverfolgung] sollen "möglicherweise" das an "Referenzfällen" festzumachende Verfolgungsgeschehen sowie die Frage Asylerheblichkeit gewinnen, "ob die Gruppenangehörigen als Minderheit in einem Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung leben müssen, das Verfolgungshandlungen wenn nicht gar in den Augen der Verfolger rechtfertigt, so doch tatsächlich begünstigt, und ob sie ganz allgemein Unterdrückungen und Nachstellungen ausgesetzt sind, mögen diese als solche auch noch nicht von einer Schwere sein, die die Annahme politischer Verfolgung begründet". Diese Ausführungen sind nicht dahin zu verstehen, daß neben die bisherigen Formen der Einzel- und Gruppenverfolgung eine dritte Kategorie asylerheblicher Verfolgung treten soll. Die vom Bundesverfassungsgericht hervorgehobenen Gesichtspunkte sind vielmehr lediglich als Indizien für eine gegenwärtige Gefahr politischer Verfolgung von Bedeutung. Auf die Maßgeblichkeit solcher Indizien hat das Bundesverwaltungsgericht wiederholt hingewiesen ... Daß sich allein mit dem Blick auf die vom Bundesverfassungsgericht ... genannten Kriterien "Referenzfälle" und "Klima" ein Asylanspruch nicht begründen läßt, zeigt bereits die Überlegung, daß nahezu jeder Angehörige einer ethnischen, religiösen oder politischen Minderheit - insbesondere in den Randgebieten eines Staates mit langandauernden Differenzen zwischen ethnischen und religiösen Gruppen von Menschen - auf Referenzfälle politischer Verfolgung sowie auf ein diese Verfolgung begünstigendes Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung verweisen kann. Unter diesem Aspekt wären sie alle einem "Übergangsbereich zwischen anlaßgeprägter Einzelverfolgung und gruppengerichteter Kollektivverfolgung" zuzuordnen und als asylberechtigt anzuerkennen. Das Asylgrundrecht des Art.16 Abs.2 Satz 2 GG würde damit jedoch den Charakter eines allgemeinen Grundrechts zum Schutz von Minderheiten annehmen. Eine derart weitreichende Asylverheißung läßt sich indes aus Art.16 Abs.2 Satz 2 GG nicht entnehmen. Davon geht im übrigen auch das Bundesverfassungsgericht aus, wenn es in seinem Beschluß ... nochmals ausdrücklich den Individualrechtscharakter des Art.16 Abs.2 Satz 2 GG betont und an der Notwendigkeit einer eigenen Verfolgungsbetroffenheit - sei es in Form der erlittenen, sei es in der Form der unmittelbar drohenden Verfolgung - festhält. ...
      Die rechtliche Einordnung von tatsächlichen Gefährdungslagen im "Übergangsbereich zwischen anlaßgeprägter Einzelverfolgung und gruppengerichteter Kollektivverfolgung" bereitet allerdings insofern Schwierigkeiten, als das Bundesverfassungsgericht mit der von ihm geforderten "Ausreise wegen bestehender oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung" (BVerfGE 80, 345) asylrechtliche Voraussetzungen normiert hat, die in den Fällen des von ihm nunmehr betonten "Übergangsbereichs" im allgemeinen gerade nicht erfüllt sind: Wer seine Heimat lediglich wegen erfolgter Referenzfälle politischer Verfolgung und wegen eines dort herrschenden feindseligen Klimas verläßt, ist - in Ermangelung einer eigenen Verfolgungsbetroffenheit bzw. wegen Fehlens der für eine Gruppenverfolgung erforderlichen Verfolgungsdichte ... - in der Regel eben nicht wegen bestehender oder unmittelbar drohender (eigener) Verfolgung ausgereist. Den genannten Gefährdungslagen muß indes - wie das Bundesverfassungsgericht ... in Übereinstimmung mit dem Bundesverwaltungsgericht hervorhebt - Rechnung getragen werden. Hierfür bedarf es jedoch eines geeigneten rechtlichen Kriteriums. Ein solches vermag nach Auffassung des erkennenden Senats maßgeblich die - im Mittelpunkt der bisherigen Asylrechtsprechung stehende - "Zumutbarkeitsformel" zu liefern. Danach hegt ein Asylsuchender begründete Furcht vor politischer Verfolgung, wenn es ihm bei verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles nicht zuzumuten ist, in seinem Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren ... Maßgeblich ist insoweit nicht das subjektive Furchtempfinden des Asylbewerbers. Das Grundrecht des Art.16 Abs.2 Satz 2 GG geht vielmehr ... von einer objektiven Beurteilung der Verfolgungsgefahr aus. Bei einer objektiven Betrachtung können aber grundsätzlich auch "Referenzfälle" stattgefundener und stattfindender politischer Verfolgung sowie ein "Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung" in einem Asylbewerber begründete Verfolgungsfurcht entstehen lassen, so daß es ihm nicht zuzumuten ist, in seinem Heimatstaat zu bleiben oder dorthin zurückzukehren. Wann eine Verfolgungsfurcht als begründet und asylrechtlich beachtlich anzusehen ist, hängt ... "von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung". Die für eine Verfolgung sprechenden Umstände müssen jedoch ... nach ihrer Intensität und Häufigkeit von einem solchen Gewicht sein, daß sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Asylbewerber die begründete Furcht ableiten läßt, selbst ein Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden.