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114. Die Bundesregierung zeichnete am 11. Mai 1995 das Rahmenübereinkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten. Bei dem Übereinkommen handelt es sich um die erste rechtsverbindliche mehrseitige Übereinkunft, in der sich die Vertragsstaaten zur Einhaltung von Rechtsgrundsätzen zugunsten nationaler Minderheiten verpflichten.252 Im Zusammenhang mit der Zeichnung hat die Bundesregierung dem Europarat eine interpretative Erklärung zugeleitet, die den Anwendungsbereich des Rahmenübereinkommens in Deutschland nach der Ratifizierung und dem völkerrechtlichen Inkrafttreten des Übereinkommens für Deutschland festlegt. Die Erklärung hat den folgenden Wortlaut:
"Das Rahmenübereinkommen enthält keine Definition des Begriffs der nationalen Minderheiten. Es ist deshalb Sache der einzelnen Vertragsstaaten zu bestimmen, auf welche Gruppen es nach der Ratifizierung Anwendung findet. Nationale Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland sind die Dänen deutscher Staatsangehörigkeit und die Angehörigen des sorbischen Volkes mit deutscher Staatsangehörigkeit. Das Rahmenübereinkommen wird auch auf die Angehörigen der traditionell in Deutschland heimischen Volksgruppen der Friesen deutscher Staatsangehörigkeit und der Sinti und Roma deutscher Staatsangehörigkeit angewendet."253 |
115. Die Bundesregierung gab im Berichtszeitraum auch über den Stand der Beratungen über ein Zusatzprotokoll zur EMRK betreffend die kulturellen Rechte nationaler Minderheiten Auskunft. Zum zeitlichen Rahmen der Beratungen erklärte sie, dem Ad-hoc-Komitee zum Schutz nationaler Minderheiten sei vom Ministerkomitee der Auftrag erteilt worden, bis Ende des Jahres 1995 einen Entwurf des Zusatzprotokolls vorzulegen. Die substantiellen Arbeiten am Zusatzprotokoll seien von dem Komitee im November 1994 aufgenommen worden und dauerten noch an. Auf die Frage, inwieweit sie bereit sei, sich entsprechend der Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates für die Aufnahme individueller Rechte nationaler Minderheiten in das Zusatzprotokoll einzusetzen, verwies die Bundesregierung auf die Wiener Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Staaten des Europarates vom 9. Oktober 1993, in der diese sich gegen ein Zusatzprotokoll ausgesprochen hätten, das ausschließlich für die Angehörigen nationaler Minderheiten Rechte garantiere. Das Protokoll solle vielmehr universelle ("Jedermann"-) Rechte enthalten, beschränkt auf den kulturellen Bereich. Die von der Parlamentarischen Versammlung vorgeschlagenen Rechte nur für die Angehörigen nationaler Minderheiten könnten bei diesem durch die Wiener Erklärung vorgegebenen Rahmen nur sehr bedingt zur Orientierung bei den Arbeiten des Ad-hoc-Komitees dienen.255
116. Die Bundesregierung nahm 1995 mehrfach zu Inhalt und Umsetzung der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen Stellung.256 Sie bezeichnete in diesem Zusammenhang das Recht, im privaten Bereich und in der Öffentlichkeit eine Regional- oder Minderheitensprache zu benutzen, als unveräußerliches Recht, das in Übereinstimmung mit den im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte enthaltenen Grundsätzen stehe und dem Geist der Europäischen Menschenrechtskonvention entspreche.257 Auf die Frage, welche Sprachen für die Benennung nach dem Schutzbereich III der Charta vorgesehen sind und welche Sprachen nur für den weniger verpflichtenden Teil II, erinnerte sie daran, daß sie sich im Einvernehmen mit den Ländern bereits bei Zeichnung der Charta für einen Schutz von Dänisch und Sorbisch nach Teil III der Charta ausgesprochen habe. Im Hinblick auf das Abstimmungsverfahren mit den Ländern bezüglich des Schutzes des Niederdeutschen führte die Bundesregierung aus:
"Die Ständige Vertragskommission der Länder hat dem Bundesminister des Innern mit Schreiben vom 7. Juni 1995 die Beschlußempfehlung vom 30. Mai 1995 zum Schutz der Minderheiten- und Regionalsprachen durch die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen übermittelt. In der Beschlußempfehlung haben sich die Länder für den Schutz der Regionalsprache Niederdeutsch nach Teil III der Charta in den Ländern Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Schleswig-Holstein ausgesprochen und entsprechende Verpflichtungskataloge übermittelt. Die Länder haben sich weiter dafür ausgesprochen, Niederdeutsch im niederdeutschen Sprachgebiet der Länder Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt nach Teil II der Charta zu schützen."258 |
117. Zur Behandlung der Minderheitenfrage im deutsch-dänischen Verhältnis erklärte Bundesaußenminister Kinkel aus Anlaß des 40. Jahrestages der Bonn-Kopenhagener Erklärungen:
"Dänemark und Deutschland haben für den Umgang mit der jeweiligen Minderheit eine zukunftsweisende Formel gefunden: 'Das Bekenntnis zum dänischen Volkstum und zur dänischen Kultur ist frei; es darf von Amts wegen nicht bestritten oder nachgeprüft werden.' Gleiches gilt für die deutschen Nordschleswiger.
Diese Aussage 'Minderheit ist, wer will!' ist das wohl eindrucksvollste Einverständnis Deutscher und Dänen dies- und jenseits der Grenze. Auf dieser Grundlage konnten wichtige Rechte verwirklicht werden: � keine Behinderung des Gebrauchs der eigenen Sprache; � garantierte Gleichbehandlung bei öffentlichen Leistungen; � Anerkennung des besonderen Interesses der Minderheiten, religiöse und kulturelle Verbindungen mit dem Nachbarland zu pflegen."260 |
118. Im Rahmen einer Kleinen Anfrage stellte die Bundesregierung klar, daß es keine rechtliche Grundlage für die Anerkennung einer polnischen Minderheit in Deutschland gibt:
"Wie aus Artikel 20 des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991 zu ersehen ist, wird der Begriff 'nationale Minderheit' nur in bezug auf die deutsche Minderheit in Polen verwendet. Die polnische Gruppe in Deutschland wird als 'Personen deutscher Staatsangehörigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, die polnischer Abstammung sind oder die sich zur polnischen Sprache, Kultur oder Tradition bekennen' bezeichnet."261 |
"Sie hätte nach Auffassung der Bundesregierung u.a. vorausgesetzt, daß die Betroffenen in einem angestammten Siedlungsgebiet leben. Dies ist jedoch nicht der Fall."262 |
119. In seiner Rede vor der 50. Vollversammlung der Generalversammlung der Vereinten Nationen hob Bundesaußenminister Kinkel die Bedeutung einer Verbesserung des Minderheitenschutzes für die Bewahrung des Friedens hervor.264 In demselben Sinne äußerte sich der spanische Vertreter für die Europäische Union im 3. Ausschuß:
"Massive violations of the human rights of persons belonging to minorities have accounted for some of the most persistent conflicts in the last few years. Again, early warning and emergency response mechanisms are relevant in the context. Efforts of governments aimed at strengthening the rule of law and democratic institutions can go a long way to avert serious crises. The international community can play an important role in supporting those efforts through technical assistance and advisory services."265 |
120. In ihrer Stellungnahme im Rahmen der Tibetanhörung des Deutschen Bundestages am 19. Juni 1995 sprach sich die Bundesregierung für die Achtung der traditionellen Autonomierechte des tibetischen Volkes durch die chinesische Regierung aus. Sie unterstütze vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung den tibetischen Anspruch auf Autonomie, insbesondere im religiösen und kulturellen Bereich, als adäquaten Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts des tibetischen Volkes.
121. In ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage zu ihrer Haltung gegenüber dem im April 1995 in Den Haag konstituierten "Kurdischen Exilparlament" betonte die Bundesregierung, sie habe sich stets für die Wahrung der Menschen- und Minderheitenrechte der Kurden in der Türkei, im Iran, im Irak und in Syrien eingesetzt.266 Lösungen für die Fragen, die die jeweiligen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit betreffen, müßten allerdings im Rahmen der territorialen Integrität der betroffenen Staaten gefunden werden. Weiter führte die Bundesregierung aus, das Institut der Selbstverwaltung sei grundsätzlich geeignet, zur Lösung innergesellschaftlicher Konflikte beizutragen. Art und Umfang der Selbstverwaltung müßten jedoch den spezifischen Bedingungen in den betroffenen Staaten Rechnung tragen.267
122. Fragen des Minderheitenschutzes waren auch Gegenstand Gemeinsamer Erklärungen über die Grundlagen der Beziehungen mit der Republik Moldau und Aserbeidschan. So heißt es in der am 11. Oktober 1995 in Bonn unterzeichneten deutsch-moldauischen Erklärung unter Nummer 14:
"Die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Moldau stimmen darin überein, daß den moldauischen Bürgern deutscher Abstammung in der Republik Moldau sowie den deutschen Staatsangehörigen moldauischer Abstammung in der Bundesrepublik Deutschland gemäß ihrer freien Entscheidung die Pflege der Sprache, Kultur und nationalen Traditionen, sowie die freie Religionsausübung ermöglicht wird. [...]
Beide Seiten bekräftigen, daß die Erhaltung der kulturellen Identität und der Lebensrechte dieser Personen eine bedeutende Funktion beim Aufbau freundschaftlicher Beziehungen einnimmt. Dementsprechend ermöglichen und erleichtern sie im Rahmen der geltenden Gesetze Förderungsmaßnahmen der anderen Seite zugunsten dieser Personen und ihrer Organisationen."268 |
123. Die Bundesregierung nahm im Berichtszeitraum ausführlich zur Lage der deutschen Minderheit in Polen Stellung. Im Hinblick auf die politischen Rechte der Angehörigen der deutschen Minderheit wies sie darauf hin, daß das polnische Wahlrecht eine Ausnahme von der 5%-Sperrklausel für Minderheitenlisten enthalte. Die deutsche Minderheit sei im Sejm mit vier Abgeordneten, im Senat mit einem Senator vertreten. Vertreter der deutschen Minderheit seien in den Woiwodschaften Oppeln, Kattowitz und Tschenstochau in insgesamt mindestens 57 Gemeinderäte sowie in alle drei Bezirksparlamente gewählt worden.270 Im Hinblick auf den Deutschunterricht an polnischen Schulen erklärte die Bundesregierung, die diesbezüglichen Bestimmungen des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages würden von der polnischen Seite umgesetzt.271 Der Deutschunterricht für Angehörige der deutschen Minderheit in Polen beruhe auf dem polnischen Bildungsgesetz vom 7. September 1991 und einer Verordnung des Bildungsministers vom 24. März 1992. Diese Rechtsgrundlagen schafften ausreichende Bedingungen für die Einrichtung von muttersprachlichem Unterricht auch für Angehörige der deutschen Minderheit. Der Unterricht der deutschen Sprache werde nur durch die Zahl der qualifizierten Lehrer eingeschränkt. Bundesregierung und Bundesländer leisteten auf Anforderung der polnischen Seite im Rahmen ihrer Möglichkeiten umfangreiche Hilfen für den Deutschunterricht.272
124. In seiner am 17. März 1995 im Deutschen Bundestag abgegebenen Regierungserklärung ging Bundesaußenminister Kinkel auch auf die Lage der deutschen Minderheit in der Tschechischen Republik ein. Er begrüßte den Umstand, daß die verstreut lebende Minderheit, die lange Zeit unter einem sehr massiven Anpassungsdruck gestanden habe, heute von beiden Seiten gefördert werde und auf dem Weg zur Wiedergewinnung ihrer kulturellen Identität sei.273 Kritisch setzte er sich mit dem Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts vom 8. März 1995 zur Rechtsgültigkeit des Benes-Dekrets Nr. 108 auseinander. Die Bundesregierung habe das Urteil eines unabhängigen Gerichts zu respektieren, appelliere jedoch an die tschechische Regierung, aus der Entscheidung keinen neuen Unfrieden entstehen zu lassen.274 Auf eine Parlamentarische Anfrage, ob sie die Auffassung teile, wonach das Urteil des tschechischen Verfassungsgerichts gegen das in Art. 14 EMRK festgelegte Diskriminierungsverbot wegen Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit verstoße, teilte die Bundesregierung mit, es sei Aufgabe der Institutionen nach der EMRK zu entscheiden, ob eine Konventionsverletzung vorliege. Einer solchen Entscheidung wolle die Bundesregierung nicht vorgreifen.275
125. Im Rahmen parlamentarischer Anfragen berichtete die Bundesregierung wiederholt276 über die von ihr im Berichtszeitraum ergriffenen Maßnahmen zur Wahrung der Interessen der deutschen Minderheit in Rumänien im Hinblick auf das vom rumänischen Parlament am 30. Juni 1995 angenommene Unterrichtsgesetz. Vertreter der deutschen Minderheit werteten verschiedene Regelungen des Gesetzes als Einschränkung des Gebrauchs ihrer Muttersprache im rumänischen Schulwesen. Dazu zählten sie insbesondere die Bestimmung, derzufolge Zugangsprüfungen zum Lyzeum und zur Universität künftig in der Regel in Rumänisch abgelegt werden müssen. Darüber hinaus befürchteten Angehörige der Minderheit eine Gefährdung der Existenz selbständiger deutschsprachiger Kindergärten und Schulen und mithin einen Rückschlag für ihre Bemühungen bei der Bewahrung ihrer kulturellen Identität. Die Bundesregierung gab ihrer Erwartung Ausdruck, daß Rumänien seine in dem Vertrag mit der Bundesrepublik Deutschland über freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa vom 21. April 1992 übernommenen und im deutsch-rumänischen Kulturabkommen vom 16. Mai 1995 bekräftigten Verpflichtungen zum Schutz und zur Unterstützung der Identität der Rumäniendeutschen erfüllen werde. Sie verwies in diesem Zusammenhang auf die von Bundespräsident Herzog während seines kürzlichen Staatsbesuchs in Rumänien gegenüber dem rumänischen Staatspräsidenten geäußerte Zuversicht, daß das kulturelle Erbe der Deutschen in Rumänien bewahrt werde277. Weiter führte die Bundesregierung aus, daß sie seit der Annahme des Gesetzes durch das rumänische Parlament in laufendem Kontakt mit der rumänischen Regierung stehe, um darauf hinzuwirken, daß die berechtigten Interessen der deutschen Minderheit im Schulwesen auch künftig eine faire Berücksichtigung fänden. So habe Bundesaußenminister Kinkel die Gelegenheit des trilateralen Außenministertreffens mit seinen rumänischen und französischen Amtskollegen in Paris genutzt, um die Angelegenheit zu thematisieren. Des weiteren hätten Gespräche zwischen dem Leiter der Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes und dem rumänischen Botschafter in Bonn beziehungsweise dem Staatssekretär im rumänischen Außenministerium stattgefunden. Darüber hinaus sei beabsichtigt, das Unterrichtsgesetz auch im Rahmen der bevorstehenden vierten Sitzung der deutsch-rumänischen Regierungskommission für Fragen der deutschen Minderheit in Rumänien zur Sprache zu bringen. Inzwischen hätte die rumänische Seite über ihre Botschaft in Bonn ausführliche Erläuterungen zu Inhalt und Anwendung des Gesetzes gegeben und dabei versichert, daß der Fortbestand des deutschen Unterrichtswesens von der 1. Klasse der Grundschule bis zum Abschluß des Gymnasiums durch das neue Unterrichtsgesetz gewährleistet werde. Die Bundesregierung werde aufmerksam verfolgen, wie die Bestimmungen des Gesetzes, insbesondere nach Erlaß der notwendigen Durchführungsverordnungen, in die Praxis umgesetzt würden und ihren Dialog mit der rumänischen Regierung fortsetzen.278