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Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1995


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Rainer Grote

VIII. Ausländer

2. Asylrecht

    68. Die Bundesregierung sprach sich im Berichtszeitraum wiederholt für eine Erweiterung der Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaft auf die Asyl- und Visapolitik aus161. Im Vorfeld der Tagung des Europäischen Rates in Cannes am 26./27. Juni 1995 führte Bundesaußenminister Kinkel im Bundestag dazu aus:

    "Die Bundesregierung strebt im Bereich der Justiz- und Innenpolitik die verstärkte Übernahme von Gemeinschaftsverfahren an. Das gilt in erster Linie für die Asyl- und Visapolitik. In diesem für die Akzeptanz der Bürger so entscheidenden Bereich fehlt es bislang an einem gemeinsamen Motor, der das gemeinsame Interesse formuliert und zur Geltung bringt. Deshalb wird sich die Bundesregierung für die Ausdehnung des Initiativrechts der Europäischen Kommission auf alle Bereiche der Justiz- und Innenpolitik einsetzen."162

69. Am 20. Juni 1995 nahm der Rat der Europäischen Union auf der Grundlage von Art. K. 1 des Unionsvertrages eine Entschließung über Mindestgarantien für Asylverfahren an. Diese Grundsätze sollen auf die Prüfung von Asylanträgen im Sinne von Art. 3 des Dubliner Übereinkommens vom 15. Juni 1990 Anwendung finden, mit Ausnahme der Verfahren zur Bestimmung des nach diesem Übereinkommen zuständigen Mitgliedstaats, für die Garantien vom Exekutivausschuß des Übereinkommens festgelegt werden.
    Zu den allgemeinen Grundsätzen für die Durchführung von Asylverfahren gehört nach der Entschließung die volle Einhaltung des Genfer Flüchtlingsabkommens von 1951 und des New Yorker Protokolls von 1967 sowie der sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen betreffend Flüchtlinge und Menschenrechte; insbesondere sind die Art. 1, 33 und 35 des Genfer Abkommens in vollem Umfang einzuhalten. Um den Grundsatz der Nichtzurückweisung wirksam zu garantieren, wird keine Rückführungsmaßnahme durchgeführt, solange die Entscheidung über den Antrag noch aussteht. Die Asylanträge werden von einer zuständigen Behörde mit uneingeschränkter Kompetenz in Asylrechts- und Flüchtlingsfragen geprüft. Alle Anträge werden einzeln, objektiv und unparteiisch geprüft (III.4). Hinsichtlich der Rechte des Asylbewerbers im Asylverfahren sieht die Entschließung vor, daß er tatsächlich die Möglichkeit haben muß, seinen Asylantrag so rasch wie möglich zu stellen (IV.10). Vor einer Entscheidung über den Antrag gilt der allgemeine Grundsatz, daß der Bewerber in dem betreffenden Staat bleiben kann (IV.12). Vor der Entscheidung ist ihm Gelegenheit zu einem Gespräch mit einem qualifizierten Bediensteten zu geben (IV.14). Wird der Antrag abgelehnt, muß der Asylbewerber über eine hinreichende Frist zur Einlegung eines Rechtsmittels und zur Vorbereitung seiner Argumentation verfügen. Vor einer Entscheidung über das Rechtsmittel gilt der allgemeine Grundsatz, daß der Asylbewerber in dem betreffenden Staat bleiben kann. Bei Ausnahmen in bestimmten Fällen aufgrund nationalen Rechts sollte er zumindest die Erlaubnis beantragen können, vorläufig während des Verfahrens in dem Mitgliedstaat verbleiben zu können; vor einer Entscheidung hierüber darf keine Rückführung erfolgen (IV.17).
    Die Mitgliedstaaten stellen fest, daß nach der Genfer Konvention de iure und de facto kein Grund dafür vorhanden sein dürfte, die Flüchtlingseigenschaft einem Bewerber zuzuerkennen, der einem anderen Mitgliedstaat angehört (IV.20).
    Bei Anwendung des Konzepts sicherer Drittstaaten sind Ausnahmen von den Grundsätzen des Suspensiveffekts von Rechtsmitteln und der schriftlichen Mitteilung der Entscheidung zulässig (IV.22). Auf an der Grenze gestellte Anträge können spezielle Verfahren angewendet werden, um vor der Entscheidung über die Einreise festzustellen, ob der Antrag offensichtlich unbegründet ist (IV.24). Erfüllt der Asylbewerber die Kriterien der Genfer Konvention, erkennt ihm der Mitgliedstaat, der den Antrag geprüft hat, Flüchtlingseigenschaft zu. Dem als Flüchtling anerkannten Asylbewerber sollte grundsätzlich Aufenthaltsrecht in dem betreffenden Mitgliedstaat gewährt werden (VI.29).163
    Bereits vor der Annahme der Entschließung durch den Rat hatte die Bundesregierung im Innenausschuß des Bundestages eine Änderung des deutschen Asylrechts im Hinblick auf die darin enthaltenen einheitlichen Verfahrensregeln für die Behandlung von Asylanträgen ausgeschlossen. Die Entschließung werde zwischen den Mitgliedstaaten der EU vereinbart; die darin aufgelisteten Maßnahmen gingen aber nicht zu Lasten Dritter.164

    70. Am 11. September 1995 beschloß der Bundestag das Gesetz zu dem Protokoll vom 26. April 1994 zu den Konsequenzen des Inkrafttretens des Dubliner Übereinkommens für einige Bestimmungen des Durchführungsabkommens zum Schengener Übereinkommen (Bonner Protokoll)165. Das Schengener Durchführungsübereinkommen enthält ebenso wie das Dubliner Übereinkommen Zuständigkeitsregelungen für die Behandlung von Asylbegehren. Die asylrechtlichen Regelungen in beiden Übereinkommen stimmen im wesentlichen überein, Unterschiede ergeben sich allerdings in einigen Detailregelungen. So ist nach dem Schengener Abkommen bei der illegalen Einreise und unerlaubten Weiterreise einer Person der Vertragsstaat für die Behandlung des Asylantrags zuständig, in den der Asylbewerber zuerst eingereist ist, während nach dem Dubliner Übereinkommen die Zuständigkeit des Einreisestaates entfällt, wenn sich der Ausländer nachweislich mindestens sechs Monate lang in einem weiteren Mitgliedstaat aufgehalten hatte, bevor er seinen Asylantrag stellte; zuständig für die Bearbeitung des Asylbegehrens ist dann der Aufenthaltsstaat. Um Normenkollisionen zu vermeiden, sieht Art. 1 des Bonner Protokolls vor, daß die asylrechtlichen Bestimmungen des Schengener Durchführungsübereinkommens mit Inkrafttreten des Dubliner Übereinkommens keine Anwendung mehr finden.

    71. Mit Gesetz vom 31. März 1995 erfolgte die Streichung Gambias aus der Liste der sicheren Herkunftsstaaten in Anlage II zum Asylverfahrensgesetz166. Die Regierung Gambias war am 22. Juli 1994 durch Militärputsch gestürzt und die Verfassung außer Kraft gesetzt worden. Die Bundesregierung hatte daraufhin durch Verordnung gemäß § 29a Abs. 3 AsylVfG festgestellt, daß Gambia nicht mehr als sicherer Herkunftsstaat gilt. Diese Verordnung trat zum 13. April 1995 außer Kraft und konnte nicht mehr verlängert werden.

    72. In ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage teilte die Bundesregierung mit, daß die Lageberichte des Auswärtigen Amtes seit März 1995 mit dem Vermerk "Verschlußsache � Nur für den Dienstgebrauch" versehen werden. Zur Begründung führte sie aus, den Lageberichten werde die asyl- und abschieberelevante Situation im betreffenden Land umfassend zugrunde gelegt. Dabei würden Erkenntnisse ausgewertet, bei deren Gewinnung in Einzelfällen Vertraulichkeit zugesichert wurde oder die Angaben über Behörden und Verfahren des Gastlandes enthalten, deren Kenntnis durch Heimatbehörden die persönliche Gefährdung von Informanten und Botschaftspersonal nach sich ziehen könne. Die Lageberichte sollten jedoch nach wie vor in Asyl- und Abschiebungsfällen in den verwaltungsgerichtlichen Prozeß eingeführt werden und könnten daher auch von Rechtsanwälten im Rahmen ihres Akteneinsichtsrechts eingesehen werden. Die Einstufung der Lageberichte als Verschlußsache sei keineswegs Ausdruck einer "Geheimhaltungspolitik" in dem Sinne, daß für eine objektive Lagedarstellung und -beurteilung wichtige Sachverhalte verschwiegen werden sollten, sondern diene im Gegenteil gerade dem Ziel, eine möglichst ungeschminkte Darstellung der Sachlage zu ermöglichen.167

    73. Aus Anlaß der Abschiebung abgelehnter sudanesischer Asylbewerber in ihren Heimatstaat kam es im Berichtszeitraum zu einer heftigen Kontroverse zwischen Regierung und Opposition über die Frage, welches Gewicht einer Zusicherung der Regierung des Heimatstaates beizumessen ist, den Asylbewerbern drohe bei einer Rückkehr in den Heimatstaat im Hinblick auf die erfolglose Asylantragstellung im Ausland keine Verfolgungsgefahr.168 Das Auswärtige Amt hatte vor der Abschiebung der Sudanesen, deren Asylantrag in Deutschland im Flughafenverfahren abgelehnt worden war, mit dem sudanesischen Außenministerium Kontakt aufgenommen, um die Gefahr einer staatlichen Verfolgung der zur Abschiebung vorgesehenen Sudanesen nach ihrer Rückkehr wegen der Asylantragstellung im Ausland zu erörtern. Der Staatssekretär im sudanesischen Außenministerium hatte daraufhin dem deutschen Geschäftsträger in Khartoum versichert, daß den betreffenden Personen im Falle ihrer Rückkehr keine staatliche Verfolgung oder menschenrechtswidrige Behandlung drohe. Bei ihrer Rückkehr würden sie lediglich zur Identitätsfeststellung bei Einreise durch die Immigrationsbehörden befragt werden, da sie nicht im Besitz von Reisedokumenten seien. Eine derartige Befragung entspreche dem üblichen Verfahren. In einer Verbalnote vom 11. September 1995 wiederholte die sudanesische Regierung auf die Bitte des deutschen Botschafters schriftlich ihre Zusicherung, daß den zur Rückführung vorgesehenen Personen wegen ihres Verhaltens in Deutschland und ihres Asylantrags keine Verfolgung, Haft oder Strafmaßnahme drohe. In ihrer Bewertung der Erklärungen der sudanesischen Seite kam das Auswärtige Amt zu dem Ergebnis, daß die entsprechende Zusage auf höchster Führungsebene erörtert und gebilligt worden sei. Dies rechtfertige die Annahme, daß die effektive Staatsgewalt für die Einhaltung der Zusage auch gegenüber den sudanesischen Innen- und Sicherheitsbehörden sorgen werde. In ihrer Antwort auf eine Schriftliche Anfrage stellte die Bundesregierung allerdings später klar, daß sie die Entscheidung über die Abschiebung der Sudanesen nicht allein von der Zusage der sudanesischen Seite abhängig gemacht habe:

    "Unabhängig von der Zusicherung der sudanesischen Regierung beruht die Auffassung der Bundesregierung, daß den sieben in den Sudan zurückgeführten Sudanesen in ihrem Heimatland keine Verfolgungsgefahr droht, auf Erkenntnissen der deutschen Botschaft in Khartoum, auf dortigen Informationen von Opposition, Menschenrechtsbeobachtern, Kirchenkreisen und westlichen Auslandsvertretungen sowie vor allem auf Informationen der Familienangehörigen und der Betroffenen selbst."169

    74. Im Rahmen mehrerer parlamentarischer Anfragen nahm die Bundesregierung zur Frage der Anwendung des neugeregelten Asylrechts auf unbegleitete asylsuchende Minderjährige Stellung170. Die Genfer Flüchtlingskonvention enthalte keine völkerrechtlichen Vorgaben für eine besondere Ausgestaltung der Rechtsstellung unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender. Weder sei das Grundrecht auf Asyl nach Art. 16a Abs. 1 GG durch eine Altersgrenze beschränkt noch gehöre das Asylrecht zu dem jugendpolitischen, der Wahrung des Kindeswohls dienenden Instrumentarium. Daraus folge, daß ein Asylantrag nur gestellt werden dürfe und gestellt werden müsse, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß dem Minderjährigen im Herkunftsland politische Verfolgung drohe. Lägen hingegen keine Anhaltspunkte für eine politische Verfolgung vor, so dürfe kein Asylantrag gestellt werden. Unter keinem denkbaren Gesichtspunkt lasse es sich rechtfertigen, das Asylverfahren zu mißbrauchen, um durch unbegründete Asylanträge ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet zu erlangen oder zu verlängern171.
    Auf alleinreisende asylsuchende Kinder fänden grundsätzlich die gleichen Regelungen über die Einreise und die Durchführung eines Asylverfahrens Anwendung wie auf Erwachsene. Dies gelte auch für die Drittstaatenregelung und das Flughafenverfahren. Eine Ausnahme gelte im Flughafenverfahren nur dann, wenn im Einzelfall eine angemessene Unterbringung auf dem Flughafengelände während des Verfahrens nicht möglich sei.172 Eine klare Absage erteilte die Bundesregierung in diesem Zusammenhang der Forderung von Menschenrechts- und Kinderschutzorganisationen, unbegleitete Minderjährige aus dem neugeregelten Asylverfahren herauszunehmen und ihnen für die Dauer eines Clearing-Verfahrens eine Aufenthaltsbefugnis zu erteilen:

    "Der Vorschlag, unbegleitete ausländische Minderjährige zunächst einreisen zu lassen, ist nicht akzeptabel. Er ist eine Aufforderung zur illegalen Zuwanderung."173
    Wenn der Sachvortrag der Betroffenen erkennen lasse, daß der Minderjährige ein Schutzbegehren äußere, werde durch das örtliche Amtsgericht (Vormundschaftsgericht) für die Asylantragstellung ein Ergänzungspfleger bestellt. Damit erhielten unbegleitete Minderjährige in gleichem Umfang asylrechtlichen Schutz wie Erwachsene.174

    75. Keine Mehrheit fanden im Berichtszeitraum Gesetzentwürfe des Bundesrates175 und der SPD-Bundestagsfraktion176 zur Herausnahme von Altfällen aus dem Asylverfahren durch Schaffung der Möglichkeit zur Erlangung eines asylunabhängigen Bleiberechts für bestimmte Gruppen von Asylbewerbern. Die Bundesregierung wies zur Begründung ihrer ablehnenden Haltung darauf hin, daß jede Altfallregelung auf dem Gebiet des Asylrechts Personen begünstigen würde, denen es gelungen sei, trotz nicht vorhandener Asylgründe eine bestimmte Verfahrensdauer zu erreichen.177


    161 Bull. Nr. 51 vom 26.6.1995, 459; Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage zur Vorbereitung der Regierungskonferenz von 1996 ("Maastricht II"), BT-Drs. 13/3198, 11.
    162 Bull. Nr. 51 vom 26.6.1995, 459.
    163 ABl. Nr. C 274 vom 19.9.1996, 13.
    164 Woche im Bundestag 1/95 vom 25.1.1995, 7.
    165 BGBl. 1995 II, 738.
    166 BGBl. 1995 I, 430.
    167 BT-Drs. 13/1570.
    168 Woche im Bundestag 16/95 vom 27.9.1995, 5.
    169 BT-Drs. 13/2528, 1.
    170 BT-Drs. 13/1076; 13/1873.
    171 BT-Drs. 13/1873, 2 f.
    172 BT-Drs. 13/1076, 3 f.
    173 BT-Drs. 13/1873, 3.
    174 Ibid., 4.
    175 BT-Drs. 13/1189.
    176 BT-Drs. 13/809.
    177 Stellungnahme der Bundesregierung zu dem Gesetzentwurf des Bundesrates, BT-Drs. 13/1189, 6 (Anlage 2).