Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Logo Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

Sie befinden sich hier: Publikationen Archiv Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland 1996

Völkerrechtliche Praxis der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1996


Inhalt | Zurück | Vor

Volker Röben


IX. Menschenrechte und Minderheiten

5. Minderheiten

    84. Die Bundesregierung führte zur Tätigkeit der Regierung, insbesondere des Bundesinnenministeriums, bezüglich der Lage und Förderung deutscher Minderheiten im Ausland folgendes aus:201

    "Die Bundesregierung hat eine besondere rechtliche, politische und moralische Verantwortung für die deutschen Minderheiten in den Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas und der ehemaligen Sowjetunion. Diese Verantwortung ist vor dem Hintergrund des schweren Schicksals der Deutschen dort und in Folge des Zweiten Weltkrieges im Rahmen der jeweiligen Möglichkeiten von allen Regierungen gesehen und wahrgenommen worden. Deshalb ist die Politik aller Regierungen für die deutschen Minderheiten in diesen Staaten seit 1949 von folgenden Grundsätzen bestimmt: den in den genannten Staaten bleibenden Angehörigen der deutschen Minderheiten soll nach dem Maß der Möglichkeiten Hilfe gewährt werden, da sie von den Folgen des Zweiten Weltkrieges besonders hart und besonders nachhaltig betroffen sind. Die Bundesrepublik Deutschland ist für diejenigen Deutschen offenzuhalten, die aufgrund eigener Entscheidung aussiedeln wollen und die dafür notwendigen gesetzlichen Voraussetzungen erfüllen. ... Das Bekenntnis der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit ist eine individuelle Entscheidung, es unterliegt keiner Dokumentationspflicht und wird staatlicherseits auch in den Nachbarstaaten Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas nicht nachgeprüft."
     Erst seit der politischen Wende im Osten sei es möglich, in nennenswertem Umfang Hilfen in den Herkunftsgebieten zu leisten. Diese Hilfen würden im Einvernehmen mit den jeweiligen Regierungen gewährt und mit diesen sowie mit den Vertretern der deutschen Minderheiten abgestimmt; sie sind so angelegt, daß sie auch nicht-deutschen Nachbarn zugute kämen. Die Fördermaßnahmen würden arbeitsteilig vom Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium des Inneren geplant, abgestimmt und durchgeführt. Aktuelle statistische Angaben über die Zugehörigkeit zu den jeweiligen deutschen Minderheiten lägen nicht vor. Die Bundesregierung sei daher auf Schätzungen unter Einbeziehung früherer statistischer und anderer Erhebungen angewiesen. Nach Schätzungen unter Einbeziehung früherer statistischer und anderer Erhebungen dürfte von ca. 3,5 Millionen Personen auszugehen sein. In vielen Familien kommen noch Ehepartner und Kinder anderer Nationalitäten hinzu. Der Einsatz des Bundes der Vertriebenen und anderer Vertriebenenorganisationen als Mittlerorganisationen könne wegen ihrer besonderen Orts-, Sprach- und Sachkenntnis für bestimmte Projekte zweckmäßig sein.

    85. Nach der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage zur deutschen Minderheit in Polen werden der deutschen Minderheit in der Republik Polen seit 1990 im Einvernehmen mit der polnischen Regierung Hilfen vor allem im kulturellen und wirtschaftlichen Bereich gewährt. Diese Unterstützung habe dazu beigetragen, daß die Angehörigen der deutschen Minderheit sich in zunehmendem Maße entschlossen hätten, in ihrer Heimat zu bleiben. Das Bekenntnis der Zugehörigkeit zu einer Minderheit sei eine individuelle Entscheidung. Genaue Zahlen über die mögliche Größe der Minderheit lägen daher nicht vor. Die Bundesregierung sei auf Schätzungen angewiesen. Die Bundesregierung zähle zu den Angehörigen der deutschen Minderheit Personen polnischer Staatsangehörigkeit, die deutscher Abstammung seien oder sich zur deutschen Sprache, Kultur oder Tradition bekennten. Die Frage der doppelten Staatsangehörigkeit habe hier keine Bedeutung. Eine genaue Zahl sei nicht bekannt. Die Bundesregierung könne die genaue Anzahl derjenigen, die sich zur deutschen Minderheit bekennten, nicht feststellen und erfasse sie nicht statistisch. Es sei nicht Aufgabe der Bundesregierung, die Zahl derjenigen zu ermitteln, die sich aufgrund individueller Entscheidung zur deutschen Minderheit in Polen bekennten. Polnische Gerichte hätten der Minderheit bestätigt, sich als "Deutsche" bezeichnen zu können. Die Bundesregierung sehe keine Veranlassung, kritischere Maßstäbe anzulegen. Daher könne sie in der Wortwahl keine mißverständliche staatsangehörigkeitsrechtliche Deutung erkennen. Die Bundesregierung verfüge lediglich über Angaben zur Zahl der beim Bundesverwaltungsamt anhängigen Verfahren auf Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit und Ausstellung von Staatsangehörigkeitsausweisen. Beim Bundesverwaltungsamt, das im Rahmen der §§ 17 Abs. 3, 27 des ersten Gesetzes zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit vom 22. Februar 1955 in der Fassung vom 18. Juli 1979 für die Bearbeitung der weitaus meisten Anträge auf Ausstellung von Staatsangehörigkeitsausweisen von Personen aus der Republik Polen zuständig sei, seien insoweit nach dem Stand vom 30. November 1995 die Feststellungsverfahren von insgesamt 66 625 Personen noch nicht abgeschlossen. Nach Auffassung der Bundesregierung komme nach Inkrafttreten des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes vom 21. Dezember 1992 eine Spätaussiedlung aus Polen nur noch in Ausnahmefällen in Betracht. Dies zeige auch der Rückgang der Zahl der aufgenommenen Personen aus Polen von 17 742 im Jahre 1992 auf etwa 1700 im Jahre 1995. Dabei handele es sich jetzt nahezu ausschließlich um Personen, die bereits vor dem Inkrafttreten des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes einen Aufnahmebescheid bzw. eine Übernahmegenehmigung des Bundesverwaltungsamtes erhalten hätten und deswegen die Voraussetzungen des § 4 Abs. 2 des Bundesvertriebenengesetzes in der Fassung des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes nicht erfüllen müßten. Davon zu unterscheiden seien diejenigen Fälle, in denen Angehörige der deutschen Minderheit in Polen zusätzlich zur polnischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit besäßen: Fälle eines Umzugs in die Bundesrepublik Deutschland unterfielen hier nicht dem Kriegsfolgenbereinigungsgesetz. Bundesmittel aus dem Haushalt des Bundesministeriums des Inneren wurden in den Jahren 1992 bis 1995 fast ausschließlich zur Verteilung deutschsprachiger Zeitungen und Zeitschriften (z.B. Burda Moden, Sport Bild, Süddeutsche Zeitung, Die Welt, Dialog, Auslandskurier, Mücke und Mücki) in den deutschen Freundschaftskreisen verwendet. Für die kulturelle und bildungspolitische Förderung der deutschen Minderheiten im Ausland sei nach den Ressortabsprachen das Auswärtige Amt zuständig. Ziel dieser Fördermaßnahmen sei nicht eine Kultur von Staats wegen, oder eine Volkstumspolitik, die die Geförderten vor das Problem einer doppelten Loyalität stellen würde. Ziel sei vielmehr die Erhaltung der kulturellen Identität auf dem jeweiligen Niveau und deren Entfaltung im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe. Es gehe also um die Unterstützung kultureller Eigeninitiativen, die sich auch der polnische Staat zum Ziel gesetzt habe. Die Maßnahmen, insbesondere im öffentlichen Bildungssektor, würden mit den polnischen Behörden abgestimmt. Sie kämen allen Interessenten in der jeweiligen Bildungseinrichtung zugute. Alle Maßnahmen sollten zugleich auch die Integration der deutschen Minderheit in ihr polnisches Umfeld fördern.202

    86. Auf die Frage, ob sich die in der Heimat verbliebenen Deutschen gegenüber polnischen Behörden unmittelbar auf eine Reihe von Bestimmungen des Vertrages vom 17. Juni 1991, z.B. auf die einzelnen Rechte in Art. 20 Abs. 3 des Assimilierungs- und Diskriminierungsverbots unmittelbar als auf self-executing-Vertragsbestimmungen auch dann berufen könnten, wenn ausreichende nationale Rechtsvorschriften dazu fehlten, und wie es nach mehr als 5jährigem Bestand des Vertrages gewährleistet werde, daß im Bildungswesen, im kulturellen und im wissenschaftlichen Bereich unter anderem ein Zusammenwirken mit den Landsleuten in der Bundesrepublik Deutschland im einzelnen realisiert werden könne, antwortete die Bundesregierung wie folgt: Die Angehörigen der deutschen Minderheit in der Republik Polen, d.h. Personen polnischer Staatsangehörigkeit, die deutscher Abstammung seien oder die sich zur deutschen Sprache, Kultur oder Tradition bekennten, sowie Personen deutscher Staatsangehörigkeit in der Bundesrepublik Deutschland, die polnischer Abstammung seien oder die sich zur polnischen Sprache, Kultur oder Tradition bekennten, könnten sich auf die Rechte aus den Art. 20 bis 22 des Nachbarschafts- und Freundschaftsvertrages vom 17. Juni 1991 berufen. Dies bedeute jedoch nicht, daß aus dem Vertrag ein durch den einzelnen Bürger unmittelbar vor Gericht einklagbares Recht gegeben sei. Hier unterscheide sich die deutsche von der noch gültigen polnischen Verfassungsordnung. Die polnische Regierung habe in einzelgesetzlichen Regelungen (unter anderem Namensrecht, Schulrecht, Wahlrecht) den Zusagen des Vertrages Rechnung getragen. Die Kontakte und die Entwicklung gemeinsamer Projekte von Angehörigen der deutschen Minderheit in Polen im Bildungs- und Kulturbereich mit Privatpersonen und gesellschaftlichen Einrichtungen in Deutschland seien intensiv, vielfältig und reibungslos. Die Bundesregierung sehe darin einen Erfolg des Vertrages von 1991.203
    Zur Entwicklung des Unterrichts in deutscher Sprache für die deutsche Minderheit führte die Bundesregierung aus: Bei der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrages 1991 habe es keinen muttersprachlichen Deutschunterricht für Angehörige der deutschen Minderheit gegeben. Derzeit sei die Lage wie folgt: In der Wojewodschaft Oppeln, dem Hauptsiedlungsgebiet der deutschen Minderheit, erhielten ca. 13 200 Schüler an 132 Grundschulen auf den Antrag ihrer Eltern muttersprachlichen Unterricht. Das seien 10,5 % aller Schüler der Wojewodschaft. An vier Standorten bestünden Gymnasien mit bilingualen Zügen. Zum Schuljahresbeginn 1996/97 würden von den Schulträgern (das seien seit dem 1. Januar 1996 die polnischen Gemeinden) in fünf Orten bilinguale Grundschulen eröffnet. Für Schulen mit deutscher Unterrichtssprache, die nach dem polnischen Schulrecht für Angehörige von Minderheiten auf Antrag der Eltern zulässig seien, seien derzeit in Schlesien wesentliche faktische Voraussetzungen nicht gegeben. So gebe es weder Schüler mit entsprechenden Sprachkenntnissen, noch genügend Lehrer. Auch fehle es noch an Lehrplänen und Schulbüchern. Das seien unter anderem die Gründe, weshalb Eltern und Schulträger sich bisher in keinem einzigen Fall für diese Unterrichtsform entschieden hätten. Insoweit sei die Situation in Schlesien nicht vergleichbar mit der in anderen Ländern, wie etwa der in Litauen. In Litauen könne die polnische Sprache für Angehörige der polnischen Minderheit seit Jahrzehnten gelehrt und gesprochen werden. Eine nennenswerte Aussiedlung nach Polen finde nicht statt.204

    87. Die Konzeption des Europäischen Zentrums für Minderheitenfragen, dessen offizieller Name "European Centre for Minority Issues (ECMI)" lautet, geht nach der Bundesregierung auf eine Initiative des ehemaligen Grenzlandbeauftragten des Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein Kurt Hamer zurück.205 Dieser habe in seiner "Denkschrift zur Errichtung eines Europäischen Zentrums für Minderheitenfragen" aus dem Jahre 1991 die Schaffung eines solchen Zentrums im deutsch-dänischen Grenzland als international anerkannte wissenschaftliche Einrichtung vorgeschlagen. In einer gemeinsamen Erklärung vom 27. März 1996 hätten sich die dänische und die deutsche Seite - Bund und Land Schleswig-Holstein - auf die Errichtung des European Centre for Minority Issues in Flensburg geeinigt, das als unabhängige Stiftung privaten Rechts errichtet werde. Das European Centre for Minority Issues habe entsprechend seiner Satzung zum Ziel, sich in europäischer Perspektive durch Forschung, Information und Beratung mit Fragen von Minderheiten und Mehrheiten und daraus entstehenden Problemen zu befassen. Minderheiten im Sinne dieser Aufgaben seien nationale Minderheiten sowie andere traditionelle (autochthone) Volksgruppen. Nach der Satzung habe das ECMI im einzelnen folgende Arbeitsfelder:

      Sammlung, Förderung und Weitergabe von Forschungsarbeiten zur Minderheitenproblematik (Dokumentationszentrum),
      Aufbau einer europäischen Daten- und Modellbank zu Minderheitenfragen und Lösungsmöglichkeiten,
      Sammlung von Forschungsarbeiten zur Minderheitenproblematik und Erarbeitung von Gesamtanalysen und Präsentation,
      Beteiligung an der Netzwerkforschung zur Minderheitenproblematik,
      Förderung und Vermittlung von praktischen Erfahrungen zum Minderheitenschutz durch Symposien, Seminare und Publikationen,
      Schaffung von Foren zur Entschärfung von Konflikten,
      Beratungstätigkeiten zur Minderheitenpolitik.
    Das ECMI werde von einem Vorstand geleitet, der zunächst sechs Personen umfasse und dem neben Wissenschaftlern auch politische Persönlichkeiten angehörten, die von den drei Stiftern benannt seien. In der gemeinsamen Erklärung vom 27. März 1996 sei festgelegt, daß die dänische Seite grundsätzlich den Vorstandsvorsitzenden des ECMI benenne. Für die laufende Arbeit sei ein/e vom Vorstand bestellte/r hauptamtliche/r Direktor/in verantwortlich. Die Arbeit des ECMI und seines Vorstandes soll von einem Kuratorium unterstützt werden. Die Bundesregierung sei durch einen Vertreter des Bundesministeriums des Inneren als Ersatzmitglied im Vorstand vertreten. Der Vorstand werde noch durch drei auf Vorschlag von europäischen Institutionen benannte Mitglieder ergänzt. Dem Gründungsvorstand unter Leitung des ehemaligen dänischen Ministers Ben Andersen gehörten Mitarbeiter des dänischen Forschungsministeriums, der Staatskanzlei Schleswig-Holstein und des Bundesministeriums des Inneren sowie der Grenzlandbeauftragte der Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein an. Diese seien von Mitarbeitern anderer Ressorts und der Stadtverwaltung Flensburg sowie vom dänischen Generalkonsul in Flensburg unterstützt. Die Satzung des ECMI enthalte keine Definition des Minderheitenbegriffs. Sie beschränke sich auf die Feststellung, daß nationale Minderheiten sowie andere traditionelle (autochthone) Volksgruppen sind. In der Zusammenarbeit des ECMI mit anderen Staaten wird auch das jeweilige nationale Verständnis des Minderheitenbegriffes zu erörtern sein. Das ECMI sei nicht als binationales, sondern als europäisches Zentrum gegründet worden, das in der Startphase binational initiiert und finanziert werde. Die Beschränkung der Vorarbeiten auf Mitarbeiter der Stifter sollte einen schnelleren Aufbau des ECMI ermöglichen. Das ECMI sei eine unabhängige Stiftung. Daher entscheide der ECMI-Vorstand, mit welchen Institutionen und Nichtregierungsorganisationen er im Rahmen seiner Aufgabenstellung zusammenarbeiten wolle. Dazu würden nach Auffassung der Bundesregierung sicher auch zahlreiche Minderheiten und ihre Verbände sowie Menschenrechtsorganisationen gehören. Der Vorstand werde zu einem späteren Zeitpunkt entsprechend der Satzung im Einvernehmen mit den drei Stiftern ein Kuratorium berufen. Es werde davon ausgegangen, daß auch die Föderalistische Union europäischer Volksgruppen (FUEV) der unabhängige Dachverband der nationalen Minderheiten und traditionellen Volksgruppen in Europa, im Kuratorium mitarbeite. Grundlage der Arbeit des ECMI sei die Stiftungssatzung. Diese bezeichne als Minderheiten im Sinne der Aufgabenstellung des ECMI nationale Minderheiten sowie andere traditionelle (autochthone) Volksgruppen. Darin seien ausländische Bevölkerungsgruppen nicht eingeschlossen. Bei der Erörterung der künftigen Aufgabenstellung eines zu gründenden ECMI seien die beteiligten Seiten der Auffassung gewesen, daß sie die Lage der Angehörigen der nationalen Minderheiten und weiteren traditionellen (autochthonen) Volksgruppen, traditionell Staatsangehörige des Landes, in dem sie lebten, grundsätzlich von der anderer Einwohner unterscheide, die erst seit kurzem oder seit mehreren Jahrzehnten im Land lebten. Es habe daher die übereinstimmende Auffassung bestanden, daß es nicht sinnvoll sei, die Situation so unterschiedlicher Gruppen in einer Institution zu behandeln. Die Eigenart nationaler Minderheiten und traditioneller (autochthoner) Volksgruppen ergebe sich aus ihrer traditionellen Siedlung im Staatsgebiet. In Deutschland seien vier Gruppen seit Jahrhunderten traditionell heimisch. Sie seien Teil des Staatsvolkes und in die Gesellschaft integriert, hätten aber über Jahrhunderte hinweg ihre eigene Kultur, Sprache und Identität als eigenständige Volksgruppe bewahrt. Der Schutz und die Förderung der Bewahrung und Weiterentwicklung dieser Eigenart nationaler Minderheiten und weiterer traditionell in Deutschland heimischer Volksgruppen deutscher Staatsangehörigkeit seien in den Verfassungen mehrerer Länder der Bundesrepublik Deutschland verankert. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verbiete auch jede Diskriminierung der Angehörigen dieser Gruppen. Die Aufgabe der Integration ausländischer Staatsangehöriger, die das Zentrum ihrer ethnischen, kulturellen und sprachlichen Identität in einem anderen Land hätten, knüpfe an deren spezifische - gegenüber traditionellen Volksgruppen unterschiedliche - Situationen an.

    88. Zur Lage der Rußlanddeutschen in der Russischen Föderation sagte Waffenschmidt, Aussiedlerbeauftragter der Bundesregierung und Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Inneren, im Anschluß an die 8. Sitzung der deutsch-russischen Regierungskommission für die Angelegenheiten der Rußlanddeutschen vom 23. bis 25. Oktober 1996, daß die Förderschwerpunkte in Westsibirien und an der Wolga den Deutschen in Mittelasien, die Übersiedlungsabsichten hätten, eine realistische Alternative zur Ausreise nach Deutschland böten.206 Trotz der schwierigen Haushaltslage sollen nach Plänen der Bundesregierung 1997 mit 84 Mio. DM fast der gleiche Betrag wie im laufenden Jahr für die Maßnahmen zugunsten der Rußlanddeutschen eingesetzt werden. Auch die russische Seite habe angekündigt, erneut 103 Milliarden Rubel zur Verfügung zu stellen.

    89. In ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage zur Politik der Bundesregierung in bezug auf indigene Völker führte die Bundesregierung aus: Die Bundesregierung setze sich auf vielfältige Art und Weise für den Schutz und die Stärkung indigener Völker und ihrer kulturellen Vielfalt im Sinne der Agenda 21 ein. Im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit werde dies in erster Linie an den Vergabekriterien, dem Zielgruppenkonzept, den soziokulturellen Kriterien und den Schwerpunkten Armutsbekämpfung, Umwelt- und Ressourcenschutz und Bildung deutlich. Bei den Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit in diesen Bereichen seien indigene Bevölkerungsgruppen häufig die Zielgruppe. Insbesondere die Vergabekriterien Achtung der Menschenrechte (hier nicht zuletzt der Indikator Schutz nationaler Minderheiten), Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit und die Beteiligung der jeweiligen Bevölkerung am politischen Entscheidungsprozeß seien geeignet, Art und Umfang der Entwicklungszusammenarbeit mit einem Partnerland auch von der Situation indigener Bevölkerungsgruppen abhängig zu machen. Die Bundesregierung setze sich für eine umfassende Beteiligung aller gesellschaftlich relevanten Gruppen an Entscheidungsprozessen und entwicklungspolitischen Maßnahmen im Partnerland ein. Besonderes Augenmerk liege dabei auf benachteiligten und marginalisierten Bevölkerungsteilen, somit auch häufig auf indigenen Bevölkerungsgruppen. In diesem Zusammenhang komme der rechtlichen und tatsächlichen Absicherung der indigenen Bevölkerung bei der Unterstützung von Reformen des Justizwesens eine besondere Bedeutung zu. Des weiteren trage die Bundesregierung durch Förderung im Rahmen von Projekten des vom Auswärtigen Amts verwalteten Kulturerhaltungsprogramms zur Erhaltung der kulturellen Identität indigener Bevölkerungsgruppen bei. In den Jahren 1993 bis 1995 wurden z.B. Projekte zur Dokumentation der Musik der Aparai-Indianer Brasiliens, zu einer Veröffentlichung über die Stammesgeschichte der Chiriguano-Indianer und zur Feldforschung über Sitten und Gebräuche der Pygmäen mit insgesamt über 235.000 DM gefördert. Die Bundesregierung fördere in großem Umfang Projekte und Programme der politischen Stiftung und kirchlichen Hilfswerke, die den Schutz und die Stärkung indigener Bevölkerungsgruppen als eines ihrer traditionellen Handlungsfelder ansähen. Die Bundesregierung werde in Kürze ein spezielles Konzept vorlegen, das der Entwicklungszusammenarbeit mit indigenen Bevölkerungsgruppen in Lateinamerika gewidmet sei. Es orientiere sich in seinen wichtigsten Kernaussagen am Übereinkommen Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) "Convention Concerning Indigenous and Tribal Peoples in Independent Countries", das den Schutz der sozialen und kulturellen Identität der indigenen Bevölkerung innerhalb ihrer Heimatstaaten und die Achtung ihres freien Willens zur selbständigen Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse festschreibe. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, verfolge dieses Konzept das Ziel, Möglichkeiten für eine Verstärkung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit zugunsten indigener Bevölkerungsgruppen in Lateinamerika aufzuzeigen und potentiellen negativen Auswirkungen anderer Maßnahmen auf diese Zielgruppe vorzubeugen. Die Bundesregierung gehe davon aus, daß sich die Verpflichtungen aus dem Abkommen Nr. 169 der Internationalen Arbeitsorganisation an Staaten richteten, auf deren Staatsgebiet eingeborene und in Stämmen lebende Bevölkerungsgruppen im Sinne dieses Übereinkommens ansässig seien. Dagegen würden durch das Abkommen keine Verpflichtungen für Drittstaaten begründet, Maßnahmen zugunsten von eingeborenen oder in Stämmen lebenden Bevölkerungsgruppen in anderen Staaten zu ergreifen oder Handlungen zum Nachteil derartiger Gruppen zu unterlassen. Daneben wäre die Bundesregierung im Falle einer Ratifizierung dieses Übereinkommens außerstande, der den Vertragsstaaten obliegenden Verpflichtungen aus Art. 22 der Verfassung der ILO nachzukommen und dem Internationalen Arbeitsamt in regelmäßigen Abständen einen Bericht über die von ihr getroffenen Maßnahmen zur Umsetzung des Übereinkommens vorzulegen. Die Bundesregierung gehe davon aus, daß die genannten Umstände zwar einen Beitritt zum Abkommen Nr. 169 der ILO unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten nicht ausschlössen, ihn aber derzeit nicht sinnvoll erscheinen ließen. Die Bundesregierung und die in ihrem Auftrag tätigen Durchführungsorganisationen seien bestrebt, den engen Kontakt zu den Vertretern indigener Bevölkerungsgruppen ebenso wie zu deutschen und lokalen Nichtregierungsorganisationen, die mit ihnen zusammenarbeiteten, weiter auszubauen. Dementsprechend fänden Kontakte und Konsultationen auf Arbeitsebene mit Vertretern des Auswärtigen Amtes und weiterer Ressorts im Zusammenhang mit Einzelvorhaben, aber auch zu allgemeinen Fragen der Zusammenarbeit, je nach Gelegenheit, statt. Die Absicht, derartige Kontakte zu institutionalisieren, bestehe jedoch nicht. Zur Rechtsstellung der indigenen Bevölkerungsgruppen führte die Bundesregierung ferner aus, daß nach Abschluß des Dekolonisierungsprozesses indigene Bevölkerungen als nationale oder ethnische Minderheiten definiert seien, die innerhalb der Grenzen von bestehenden und als Völkerrechtssubjekten anerkannten Staaten lebten. Nach klassischem Völkerrecht komme neben internationalen Organisationen und einigen traditionell begründeten Ausnahmen lediglich Staaten, nicht aber einzelnen Bevölkerungsteilen innerhalb bestehender Staaten Völkerrechtssubjektivität zu. Der gegenwärtige Status indigener Bevölkerung entspreche daher gängiger Staatenpraxis und überwiegender Völkerrechtslehre. In ihrem Verhältnis zu indigenen Bevölkerungen habe die Bundesregierung zu berücksichtigen, daß sie völkerrechtlich zur Achtung der territorialen Integrität bestehender Staaten verpflichtet sei. Die Bundesregierung könne sich nicht für die Entstehung neuer Völkerrechtssubjekte einsetzen, ohne daß dies den Zerfall bereits bestehender von Deutschland anerkannter Staaten zur Folge haben würde. Eine solche Entwicklung und die daraus resultierende Rechtsunsicherheit lägen jedoch nicht im Interesse Deutschlands und der Völkergemeinschaft. Der Wunsch indigener Bevölkerungen nach völkerrechtlicher Anerkennung stehe im Konflikt mit dem Anspruch bestehender Staaten auf Achtung ihrer territorialen Integrität. Nach Ansicht der Bundesregierung kann dieses Balanceverhältnis wirksam abgebaut werden, indem indigenen Bevölkerungsgruppen effektive Schutzmechanismen zur Wahrung ihrer kulturellen und ethnischen Identität zur Verfügung gestellt würden. Art. 27 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte bildet nach Ansicht der Bundesregierung eine wirksame Basis für den internationalen Minderheitenschutz auf globaler Ebene. Dem von indigenen Bevölkerungen geäußerten Wunsch nach Selbstbestimmung könne sowohl durch Einräumung regionaler Autonomie als auch durch eine angemessene Beteiligung an der innerstaatlichen Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung Rechnung getragen werden. Die Bundesregierung werde sich auch weiterhin für einen effektiven Schutz und eine angemessene Beteiligung indigener Bevölkerungsgruppen an innerstaatlichen Willensbildungsprozessen einsetzen. In diesem Zusammenhang wäre eine Beteiligung von Vertretern indigener Bevölkerungsgruppen an Verhandlungen mit der Bundesregierung denkbar. Eine solche Einbeziehung dürfe jedoch zu keiner Veränderung des völkerrechtlichen Status indigener Bevölkerungen führen und würde das Einverständnis der offiziellen Verhandlungspartner der Bundesregierung voraussetzen. Die Bundesregierung messe dem Austausch von Informationen und Knowhow zwischen indigenen Bevölkerungen und den Industrienationen im Rahmen des "Übereinkommens über die biologische Vielfalt" aus dem Jahre 1992 große Bedeutung bei. Indigene Bevölkerungsgruppen verfügten zum Teil über ein großes Wissen über den Wert ihrer natürlichen Umwelt. Den besonderen Kenntnissen und Fertigkeiten, die von indigenen Völkern überliefert würden (z.B. Verwendungsmöglichkeiten für Pflanzen, Kultivierungstechniken für Nutzpflanzen, Kenntnisse in dauerhafter Agroforstwirtschaft), komme große Bedeutung bei der Diskussion von Schutzstrategien für die tropischen Regenwälder zu. Auf der Grundlage der Art. 16, 17 und 18 dieses Übereinkommens, sei die Entwicklung eines Clearinghouse-Mechanismus verabschiedet worden. Diese Art "Datendrehscheibe" soll die technische und wissenschaftliche Zusammenarbeit sowie Informationsaustausch zwischen den Vertragsstaaten fördern und erleichtern. Bestandteil des Abkommens sei unter anderem die Berücksichtigung und Förderung der indigenen Bevölkerungsgruppen und ihrer Gemeinschaft (Art. 16 und 26 der Agenda 21). Die Bundesregierung werde diese Zielvorstellungen im Zuge der Erarbeitung einer Strategie zur nationalen Umsetzung des Abkommens prüfen. Daneben fördere die Bundesregierung im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit eine ständig wachsende Zahl von Vorhaben in den Bereichen Naturschutz und biologische Vielfalt (derzeit etwa 80 Projekte mit einem Gesamtvolumen von ca. 660 Mio. DM). Ein Beispiel dafür sei das private und gemeinnützige Costa Ricanische Institut für Biodiversität inbio, das in Zusammenarbeit mit der einheimischen Bevölkerung ein Inventar der Artenvielfalt von Flora und Fauna erstelle. Mit der Pharmaindustrie geschlossene Verträge zur Extraktion des Pflanzenmaterials kämen der einheimischen Bevölkerung zugute. Inbio gelte als vorbildlich auch für andere Staaten Lateinamerikas. Das Projekt werde durch einen vom CIM (Centre for International Migration) Frankfurt entsandten deutschen Experten unterstützt. Im Rahmen des Internationalen Tropenwaldschutzprogramms "Brasilien", zu dem die Bundesregierung rund 300 Mio. DM beisteuere, sei der Schutz der brasilianischen indigenen Bevölkerung eines der zentralen Anliegen. Im Rahmen ihrer entwicklungspolitischen Zusammenarbeit erhielten die Bundesregierung und die in ihrem Auftrag tätigen Durchführungsorganisationen in den Partnerländern Anfragen oder Projektideen von C-Gruppen Vertretern, darunter auch Vertreter indigener Bevölkerungsgruppen, die sich auf eine sozial- und umweltverträgliche Verbesserung ihrer Lebenssituation bezögen. Die Bundesregierung verfolge die von der internationalen Staatengemeinschaft unternommenen Schritte zum Schutz des kulturellen und intellektuellen Erbes indigener Bevölkerungen mit Aufmerksamkeit. Im Rahmen der Vereinten Nationen gebe es seit langem Bestrebungen, das kulturelle und intellektuelle Erbe indigener Bevölkerungen zu schützen. Der Bundesregierung sei eine Beteiligung indigener Bevölkerungen auf internationaler Ebene willkommen. Sie gehe jedoch davon aus, daß ein wirksamer Schutz letztlich nur auf regionaler bzw. nationaler Ebene erreicht werden könne. In diesem Zusammenhang unterstütze die Bundesregierung das im Rahmen des "Internationalen Jahrzehnts der eingeborenen Völker der Welt" diskutierte Vorhaben der Einrichtung eines permanenten "Forums für indigene Bevölkerungen" der Vereinten Nationen. In diesem Zusammenhang beteilige sich die Bundesregierung aktiv an der Arbeit der von der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen eingesetzten Arbeitsgruppe zur Erarbeitung einer "Erklärung über die Rechte eingeborener Bevölkerungen". Das unter aktiver Beteiligung von Nichtregierungsorganisationen erarbeitete Positionspapier "Förderung von Waldvölkern im Rahmen des Tropenwaldprogramms" trage durch eine umfassende Analyse der Interessen und praktischen Probleme der Waldvölker zur Konkretisierung der Tropenwaldsektorstrategie bei. Es ziele darauf ab, die Qualität von Entwicklungsprojekten im Bereich Tropenwalderhaltung zu verbessern. Sein inhaltlicher Schwerpunkt liege in diesem Zusammenhang auf Problemen der im und vom Wald lebenden indigenen Bevölkerung. Darüber hinaus werde in dem sektorübergreifenden Konzept zur Entwicklungszusammenarbeit mit indigenen Bevölkerungsgruppen in Lateinamerika ein über den Naturressourcenbereich hinausgehender Ansatz verfolgt. Die betreffenden Aussagen bezögen sich auf die Verhältnisse in Lateinamerika, ließen aber auch generelle Schlußfolgerungen für die Planung und Durchführung von indigen-relevanten Vorhaben in anderen Regionen der Erde zu.207



    201 Antwort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage, BT-Drs. 13/5457, 1.
    202 BT-Drs. 13/3428.
    203 Antwort der Bundesregierung auf eine schriftliche Parlamentarische Anfrage, BT-Drs. 13/ 5689, 5.
    204 Antwort der Bundesregierung auf eine schriftliche Parlamentarische Anfrage, BT-Drs. 13/ 5689, 6.
    205 Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage, BT-Drs. 13/5392.
    206 FAZ vom 26.10.1996, 4.
    207 BT-Drs. 13/5367.