Als sich das Coronavirus im März 2020 rasant in Deutschland, Europa und der Welt verbreitete, wurde schnell deutlich, dass die Pandemie nicht nur eine neue gesundheits-, wirtschafts- und sicherheitspolitische Herausforderung darstellt. Vielmehr war zu beobachten, dass eine Pandemie auch zum verfassungsrechtlichen Problem werden kann. In vielen Ländern entfachte sie in Windeseile eine bemerkenswert facettenreiche und kritische verfassungsrechtliche Debatte, die von einer geradezu grenzenlosen Ausweitung verfassungsrechtlichen Bewertens, Argumentierens und Dissens gekennzeichnet war.
Vor diesem Hintergrund untersucht die Arbeit, wie die Verfassungen und das Verfassungsrecht in Deutschland und Italien zum Widerstand gegen die Corona-Eindämmungsmaßnahmen mobilisiert wurden. Wie wurden Verfassungen in der Bewältigung der Corona-Pandemie eingebracht und wie haben sie die Diskurse geprägt? Was waren die meistdebattierten verfassungsrechtlichen Fragen der Pandemie? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen sich zwischen Deutschland und Italien erkennen? Wie lassen diese sich besser verstehen oder sogar erklären?
Um diese Fragen zu beantworten, werden die in Italien und Deutschland geführten kritischen verfassungsrecht(swissenschaft)lichen Pandemiedebatten der letzten Jahre, die eine große Zahl von Beiträgen zu immer denselben Themen hervorgebracht haben, aus einer ex-post-Perspektive resümiert und reflektiert. Die verfassungsrechtlichen Protagonisten der Pandemie – das heißt vor allem Gesetzgeber, Regierung, Gerichte, (Verfassungs-)Rechtswissenschaft und auch die Bürgergesellschaft – werden untersucht und porträtiert. Wie haben diese Akteure die beobachteten verfassungsrechtlichen Konflikte bearbeitet? Wie haben vor allem die Gerichte und die Verfassungsrechtswissenschaft die Verfassung konkret zum Widerstand gegen die freiheitseinschränkenden Corona-Maßnahmen mobilisiert? Wie argumentativ eingesetzt? Hat diese auf das Verfassungsargument gestützte Kritik das Handeln von Legislative und Exekutive erreicht? Der methodische Schwerpunkt liegt dabei auf einem kontextueller Verfassungsrechtsvergleich von Deutschland und Italien. Ergänzt wird die rechtsvergleichende Untersuchung durch einen kulturwissenschaftlichen Ansatz, als einem weiteren Weg, um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Verfassungsstaaten nachzuzeichnen. Dieser Ansatz verspricht eine neue Perspektive auf die Pandemiedebatten zu eröffnen.
Die verfassungsrechtliche Kritik und ihre Auswirkungen sollen dabei in dieser Studie in einen größeren Zusammenhang gestellt werden, der die Lage des Verfassungsdenkens, der Verfassungskultur und der Verfassungspraxis umfasst. Aus der Gegenüberstellung von Deutschland und Italien soll das verfassungsrechtliche Verständnis der beiden Rechtsordnungen vertieft, mehr über ihre verfassungsrechtlichen Strukturen sowie verfassungskulturell geprägte Verhaltensmuster in Krisenzeiten gelernt werden. Denn die Antworten der Verfassungsrechtssysteme auf die Corona-Krise sind nicht nur für den aktuellen Moment der Pandemie relevant, sondern geben breiteren Aufschluss über die Verfassungsrechtssysteme und ihre Reaktionsfähigkeit auf Krisen.